„Die Komplexität besteht in den vielfachen Gruppenbeziehungen und ihren sprachlichen Markierungen, die entstanden sind durch die Überlagerung mehrerer konkurrierender Ordnungssysteme.“
Der von Prof. Dr. Christian Voß gehaltene Vortrag „Sprachliche Dimensionen von Grenzziehungen und -öffnungen in Südosteuropa“ behandelt anhand der im griechischen West-Thrakien lebenden sog. Pomaken die komplexen Dimensionen von Sprachidentitätsentwicklung in Grenzgebieten.
Die Pomaken bilden eine aus ca. 40.000 Personen bestehende Gruppe slawischsprachiger Balkanmuslime, die durch die Überlagerung mehrerer konkurrierender Ordnungssysteme im historischen Verlauf der Region trilateral von Griechenland, Bulgarien und der Türkei instrumentalisiert wurden. In der Zeit nach dem 1. Weltkrieg tauschten die Nationalstaaten Griechenland und die Türkei in einem Präzedenzfall religiöse Bevölkerungsgruppen aus. Die Konvention über den Bevölkerungsaustausch wurde am 30. Januar 1923 in Lausanne von beiden Staaten unterzeichnet und beinhaltete den Austausch von 1,2 Mio. in der Türkei lebenden griechischen Orthodoxen gegen 400.000 in Griechenland lebende türkische Muslime. Ausgenommen von dem ansonsten obligatorischen Bevölkerungsaustausch waren die ca. 100.000 Muslime West-Thrakiens, welche durch das Abkommen von Lausanne, einem internationalen Rechtsakt, als religiöse Minderheit geschützt sind.
Sprachlich sowie identitär unterliegen die Pomaken einer wankelmütigen griechischen Außen- und Minderheitenpolitik, die zwischen der „Gefahr aus dem Norden“ (Bulgarien) und der „Gefahr aus dem Osten“ (Türkei) oszilliert: Seit 1951 inkludiert ein griechisch-türkischsprachiges Minderheitensystem die pomakische Bevölkerungsgruppe, wodurch sich der türkische Transnationalismus seitens der Pomaken intensivierte. Der fortschreitenden Turzisierung jedoch versuchte die griechische Politik seit Anfang der 1990er Jahre durch Förderung eines pomakischen Nationalismus im Sinne einer hauptsächlich sprachlich gestützten Regionalidentität entgegenzuwirken. Diese Maßnahmen zur Hellenisierung der pomakischen Region werden von der Sprachgemeinschaft als abermalige Fremdbestimmung wahrgenommen und stoßen somit nicht nur auf Ablehnung, sondern verstärken überdies den griechisch-türkischen Konflikt.
Geografisch ist die pomakische Bevölkerungsgruppe durch den griechisch-bulgarischen Grenzverlauf getrennt, welcher bis 1989 Eiserner Vorhang war. Doch auch sprachlich liegt mit den Pomaken keineswegs eine grenzüberschreitende Sprachinsel vor. Prof. Dr. Christian Voß erläutert, dass Sprache für die pomakische Bevölkerung keine übergeordnete Rolle spielt, sondern vielmehr der Islam als Dissimilationssymbol dient. Dies führt dazu, dass jenseits der Grenze bulgarische und griechische Pomaken durch Lokaldialekte verschiedener Überdachungssprachen eine derart hohe Sprachdivergenz aufweisen, dass die höchste Interkomprehension somit tatsächlich zwischen bulgarischen Türken und griechischen Pomaken, und nicht zwischen bulgarischen und griechischen Pomaken besteht. Voß konstatiert, dass die innerpomakische, grenzüberschreitende Kohäsion „minimal bis nicht existent“ sei.
Im Rahmen der Osterweiterungsagenda und des Pan-European Corridors positioniert sich zunehmend die EU als neuer Player, welcher durch Kohäsionspolitik, wie beispielsweise EU-subventionierte Straßenbauprojekte in Südosteuropa, auf Mobilitätssteigerungen und erhöhte grenzübergreifende Zusammenarbeit abzielt. Doch die „politisch inszenierte Einigung“ hat laut Voß nicht nur die Mitgliedsstaaten Griechenland und Bulgarien verfehlt, sondern ist auch an der grenzüberschreitenden Minderheit der Pomaken vorbeigegangen.
Trotz Grenzöffnungen und eines weitgreifenden EU-Diskurses, welcher den fortwährenden Abbau von Grenzen vorsieht, ist festzustellen, dass südosteuropäische Grenzen heute „technisch undurchdringbar“, überraschend essentialisiert und naturalisiert sind. So wäre zu erwarten, dass lokale Minderheiten wie die Pomaken auf Grund von Grenzziehungen vermeintlich arbiträrer Natur die Legitimität dieser Grenze infrage stellen. Voß konstatiert, dass seitens der pomakischen Bevölkerung jedoch kein Illegitimitätsdiskurs zur Grenze vorhanden ist.
Das Spezifikum der heutigen Situation der Pomaken veranschaulicht das Einwirken diverser Faktoren auf eine Minderheitenregion, welche im Prozess der Sprachidentitätsentwicklung zum Spielball internationaler Politik instrumentalisiert wird. So erkennt Voß: „Die Komplexität besteht in den vielfachen Gruppenbeziehungen und ihren sprachlichen Markierungen, die entstanden sind durch die Überlagerung mehrerer konkurrierender Ordnungssysteme.“
Abschließend lässt sich festhalten, dass das Erbe dieser Ordnungssysteme in Südosteuropa eine neue Dynamik sowie Akteure hervorbringt, die zunehmend das Konzept des nationalstaatlichen Monopols dekonstruieren und weitreichende sprachliche Dimensionen von Grenzziehungen und -öffnungen in Südosteuropa aufzeigen.
Autorin: Tabea Thoele