Sprachliche Dimensionen von Grenzziehungen und -öffnungen in Südosteuropa

„Obwohl im EU-Diskurs und gerade im wissenschaftlichen Diskurs Grenzen dekonstruiert und abgebaut werden, sind im Südosten Europas Grenzen überraschend präsent.“

In der sechsten Sitzung der Ringvorlesung gewährte uns Prof. Dr. Christian Voß Einblicke in seine linguistische Forschung zu Grenzen in Südosteuropa. Im Mittelpunkt seines Vortrags standen die griechisch-bulgarische und die griechisch-makedonische Grenze, an denen auf griechischer Seite slavischsprachige Minderheiten leben.

Südosteuropa ist durch willkürlich gegebene, seit Ende der Balkankriege 1912/13 existierende Grenzen geprägt. Diese Grenzziehung hatte mitunter zur Folge, dass Dialektkontinua durchschnitten wurden. Dabei wurde der jeweils betroffene Dialekt auf der einen Seite der Grenze entweder von der Standardvarietät überdacht oder bildete selbst die Basis für die Standardvarietät der Titularnation, während er sich auf der anderen Seite der Grenze zu einem dachlosen, vom Sprachtod bedrohten Dialekt entwickelte – eine Konstellation, die auch an der griechisch-bulgarischen und griechisch-makedonischen Grenze zu beobachten ist. Wie ist es aber genau um die dachlos gewordene sprachliche Minderheit auf der einen Seite der Grenze bestellt? Voß führte aus, dass linguistische Forschungen für den Raum Osteuropa belegen, dass Sprecher einer marginalisierten Minderheit in Anpassungsprozessen an die dominante Sprechergruppe Interlanguages ausbilden. In diesem Prozess spielen außersprachliche Faktoren wie Politik, Ökonomie, Attitüden, Perzeptionen und Identitäten eine entscheidende Rolle.

Im Fortgang seines Vortrags thematisierte unser Gast die konkrete sprachliche Dynamik der slavischen Minderheiten auf griechischer Seite. Zunächst warfen wir gemeinsam einen Blick ins griechische Westthrakien, wo die slavischsprachige, muslimische Minderheit der Pomaken, die sich über dörfliche Zugehörigkeiten und ihre Religion definiert, neben einer größeren türkischen Minderheit ansässig ist. Voß zeichnete das Schicksal der pomakischen Minderheit auf griechischer Seite als trilateral instrumentalisierte Gruppe im Interessenkonflikt zwischen Griechenland, der Türkei und Bulgarien nach. Dabei ließen die unterschiedlichen Intentionen die sprachliche Assimilation der Pomaken hin zum Griechischen und zum Türkischen nicht unbeeinflusst.

Einerseits waren die Pomakischsprecher Diskriminierungen ausgesetzt und der griechische Staat bestrebt, die Pomaken ab 1951 zu turzisieren, um so einer Nähe zu Bulgarien auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs entgegenzuwirken. Andererseits gab es Gegenströmungen der griechischen, antitürkischen Rechten, die Pomaken als slavische, griechisch national verortete Minderheit zu positionieren. Voß beleuchtete die von letztgenannter Strömung vorangetriebene pro-slavische, aber zum Scheitern verurteilte Sprachpolitik. Ihr Fehler lag vor allem darin, dass sie nicht auf die Stärkung des Slaventums der Pomaken abzielte, sondern auf die Stärkung der Griechen selbst im griechisch-türkischen Konflikt. Aus seiner Ausführung ging hervor, dass das Pomakische auf griechischer Seite verloren scheint. Die Entwicklung im letzten Jahrhundert zeitigt zudem eine sprachliche und kulturelle Entfremdung der griechischen und bulgarischen Pomaken, worüber auch die seit Grenzöffnung bestehende, aber wenig frequentierte Autobahn zwischen Griechenland und Bulgarien Zeugnis ablegt.

Im Anschluss ging Voß auf seine Forschung zur slavischen Minderheit an der griechisch-makedonischen Grenze ein. Er verortete diese von den Griechen sprachlich unterdrückte Minderheit im Spannungsfeld von vier Nationalismen (der Bulgaren, Serben, Jugoslawen und aktuell der Mazedonier), die im Laufe des 20. Jahrhunderts Territorialansprüche auf weite Teile Nordgriechenlands bis Thessaloniki erhoben. Hierbei stellte Voß die Frage, ob die Identifikation der slavischen Minderheit mit dem slavischen Dialektkontinuum jenseits der Grenze ausreicht, um sich nicht nur national, sondern auch sprachlich zu identifizieren, und fragte ferner nach den Chancen einer Dialektrevitalisierung und Öffnung mentaler Grenzen.

Bevor Prof. Voß aktuelle Forschungsprojekte kurz vorstellte, die sich mit der Thematik der südosteuropäischen Grenzziehung und -öffnung befassen, schloss er mit dem Versuch und gleichsam mit dem Fazit, Spezifika der südosteuropäischen Grenzen zu beschreiben. Eines wurde hierbei auf jeden Fall bewusst: Während Grenzen im EU-Diskurs abgebaut werden, werden sie in Südosteuropa naturalisiert und sind in den Köpfen der Bewohner tief verankert.

 

Autorin: Juliane Voß