Code-Switching und mehrfache Codierung in Maxim Billers Texten

„Wer einmal den Boden unter den Füßen verloren hat, wirbelt besonders schön und anmutig durch die Luft“ – Maxim Biller

Den elften Vortrag der Ringvorlesung hielt Prof. Dr. Marek Nekula am 10. Januar 2017. Am Anfang seines Vortrages stand ein kurzer Umriss von Maxim Billers Biografie: Maxim Biller, den meisten wohl aus dem Literarischen Quartett bekannt, ist als Grenzgänger zu bezeichnen. Geboren wurde er 1960 in Prag, als Sohn russisch-jüdischer Eltern, der im Jahre 1970 nach Deutschland emigrierte und dort ein Studium der Journalistik und Germanistik abschloss. Er gilt, so Nekula, als wichtige Stimme der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Biller selbst bezeichnet sich jedoch als jüdischer Autor. Prof. Dr. Marek Nekula konzentrierte sich während des Vortrags auf die Erzählung Ein trauriger Sohn für Pollok aus dem Erzählband Land der Täter und Verräter aus dem Jahre 1994. Der Text werfe eine besonders spannende Frage auf, nämlich die Frage nach dem Adressaten des Textes. Wie sieht nun der ideale Leser in Billers Erzählung laut Prof. Dr. Nekula aus? Im Wesentlichen lässt sich Folgendes feststellen: Die naive Lesart fällt mit der deutschen, monolingualen Lesart zusammen, die kritische Lesart mit einer Bilingualen. Ein Beispiel hierfür liefert Nekula anhand folgenden Satzes aus einem Brief von Franz Kafka an Josef David vom 03. Oktober 1923: „To je tak jako Eulen nach Athen tragen“. Der ideale Leser verfügt folglich über eine hybride, kritische Lesart. Er ist sowohl der deutschen und tschechischen Sprache mächtig und fähig, sich in beiden Kontexten, den kulturellen und sprachlichen, zu bewegen. Der Leser befindet sich somit laut Prof. Dr. Nekula in einem dritten Raum, der einem monolingual deutschen oder tschechischen Leser verwehrt bleibt. Biller verwende in seiner Erzählung eine spezifische Technik des Schreibens: Fortwährend verwende er tschechische Repliken. Auf 50 Seiten kommt ungefähr zehn Mal ein Code-Switching vor. Vorwiegend handele es sich bei Billers Erzählung um Code-Switching als Übersetzung. Es hat vor allem eine charakterisierende Funktion. So wird beispielsweise durch Einschübe der anderen Sprache die Geste mimetisch vorgeführt. Seltener würde in Billers Erzählung das Code-Switching ohne Übersetzung vorzufinden sein. Hierbei werden Wörter in eine Matrixsprache eingebettet. Das sieht in der Praxis aus, wie bereits im oben aufgeführten Beispielsatz aus Kafkas Brief an David.

Ein besonders anschauliches und interessantes Beispiel liefert Prof. Dr. Marek Nekula mit der Namensgebung der Figuren in Billers Erzählung. Die Protagonisten heißen Pavel Pollok alias Kohout und Milan Holub alias Poulcoq. Pollok sei als eine Kombination der französischen Wörter von Henne und Hahn zu verstehen, während der Name Holub auf Tschechisch Taube bedeute. Kohout sei wiederum aus dem Tschechischen abgeleitet und bedeute Hahn. Diese Namensgebung führe zu einer Beliebigkeit und Austauschbarkeit von Namen und Charakteren. Am Anfang der Erzählung ist die Rollenverteilung klar. Der Leser meint zu wissen, wer Opfer, wer Täter ist. Allerdings verschiebt sich dieses Verhältnis, wie es in der Namensgebung der Figuren bereits zu erahnen ist und wird letztlich symbolgebend für die Schizophrenie des Stalinismus sei. Im Stalinismus würden die Täter zu Opfern und die Opfer zu Tätern werden. Einem deutschsprachigen Leser ist dieses Wortspiel der Figuren nicht greifbar, einem rein tschechischen Leser auch nicht, da die Erzählung auf Deutsch geschrieben wurde. Dieses Wortspiel zeige folglich, so Prof. Dr. Marek Nekula: Der dritte Raum ist dem Autor bekannt, da er Zugang zu beiden kulturellen und sprachlichen Räumen hat.

Am Ende des Vortrages bezieht sich Nekula auf die Metapher des Schwebens, die bei Biller und unter anderem auch bei Kafka verwendet wird. Diese Metapher verweise eher auf die jüdische Tradition, als auf die tschechische. Nekula stellt fest: Das Tschechische sei Mittel, um sich der deutschen Sprache und Kultur zu entziehen, sich jedoch gleichzeitig in die Literatursprache einzubinden.

Weiterführende Literatur:

Nekula, Marek (2012): Der dritte Leser in Maxim Billers Prosa. Erschienen in: Aussiger Beiträge – Germanistische Schriftenreihe aus Forschung und Lehre, 6. Jahrgang (2012). Hrsg.: Cornejo, Piontek, Vlasta. Aussiger Beiträge, Frankfurt am Main.

Autorin: Julia Jaworski