Oral History #6 – Geschichte von A.

 

6

„So, jetzt fängt mein neues Leben an. Was hält es für mich bereit? Keine Ahnung. Werde ich glücklich sein? Keine Ahnung.”

 

Ankündigung

„Du weißt, dass wir diese Entscheidung fällen mussten. Für uns ist es genauso schwer, aber das Einzige was zählt, ist Mamas Gesundheit.“ Alina starrte auf ihren Teller und schob die restlichen Kartoffeln von einer Seite des Tellerrandes zur anderen. Sie dachte an Hanka, an den Kiosk in dem Radek jobbte – Radek mit den grünen Augen und dem schüchternen Lächeln. Und an pani Krystyna, die jeden Tag pünktlich um 12 Uhr beladen mit Obst, Kompott und Zeitungen für ihren Mann aus dem Haus ging. Ihr Mann war, seitdem Alina sich erinnern konnte, in einer Heil- und Pflegeanstalt untergebracht. Den Grund dafür kannte niemand so genau. Einige meinen, dass er eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, sich aufs Sofa setzte und ab diesem Zeitpunkt einfach aufhörte zu reden. All diese banalen Dinge kamen Alina auf einmal sehr bedeutsam vor. „Schatz, schau mich an“, sprach Mama und umfasste sanft Alinas Hand. Als hätte sie Alinas Gedanken erraten, fuhr sie fort: „Nichts ist verloren. Deutschland ist nur ein paar Autostunden entfernt. Wir werden die Ferien immer hier verbringen.“ Alina befreite ihre Hand aus der Umklammerung ihrer Mama, stand auf und ging in ihr Zimmer. Während sie die Tür schloss, hörte sie Papa sagen: „Es ist immer das Gleiche mit ihr! Dieses Rumgezicke geht mir auf den Geist!“ Mit Tränen in den Augen legte sich Alina aufs Bett und schlief ein.

 

Abschied

Drei Monate später standen im ganzen Haus Umzugskartons und zerlegte Möbelstücke herum. Alina saß in ihrem Zimmer und verstaute die restlichen Sachen. Sie wickelte alles sorgfältig in Papier und Handtücher ein, damit während der Fahrt nichts kaputt ging. Mama hatte ihr gesagt, dass sie bei der Gelegenheit ja gleich ein paar Dinge ausmisten könne. Doch Alina brachte es nicht übers Herz, sich auch nur von einer einzigen Sache zu trennen. Das wäre, als würde sie einen Teil ihres Lebens hier in Polen wegwerfen. Und das kam überhaupt nicht in Frage.

„Was machst du?“, fragte Alinas jüngerer Bruder, Julian.
„Na was schon?! Das Gleiche was alle in diesem Haus machen: Packen.“
„Weißt du, was wujek Janek erzählt hat? Er meinte, dass die in Barten-Württemberg…“
„Es heißt BADEN-Württemberg, du Analphabet.“
„Naja egal, dass die da gar kein Deutsch sprechen.“
„Wie, kein Deutsch? Reden die Japanisch oder was?“
„Nein, also wujek Janek meinte, die sprechen schon Deutsch aber nicht so wie die anderen es sprechen. Die können einfach kein normales Deutsch und wir können alles, das wir in der Schule gelernt haben, locker vergessen.“
„Julian, weißt du was? Du gehst mir ganz schön auf die Nerven mit deinem Deutsch, das kein richtiges Deutsch ist. Hast du nichts Besseres zu tun? Ich muss mich nämlich noch fertig machen. Ich bin mit Hanka und den anderen verabredet.“
„Ist ja schon gut, Grumpy. Hast du Liebeskummer? Denkst du, dass du deinen Radek nie mehr wiedersehen wirst?“

Noch bevor Alina zum Schlag ausholen konnte, war Julian schon aus dem Zimmer gerannt. „Arschloch“, rief sie ihm noch hinterher. Sie konnte seine Gelassenheit in Bezug auf die Abreise nicht ertragen. Wie kann es ihm so egal sein, ging es ihr durch den Kopf und es überkam sie ein leichtes Gefühl der Eifersucht. „Wenn ich doch auch nur …“ dachte sie,  „ … Nein! Er ist ja noch ein Kind. Ihm ist nicht klar, dass es nicht nur ein Abenteuer ist.“ Alina nahm ihre Jacke und ging aus dem Haus.

Draußen dämmerte es bereits, doch Alina lag noch immer wach auf ihrer Matratze. Sie dachte an das Treffen mit ihren Freunden und den unspektakulären Abschied von ihnen. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen jedem etwas Wichtiges zu sagen, an das sie sich nach Alinas Weggang erinnern könnten. Aber so kam es nicht.

„Na, dann pass’ mal auf dich auf. Iss nicht zu viel Schnitzel.“
„Nää, werd’ ich bestimmt nicht. Mag ich überhaupt nicht.“
„Vielleicht lernst du ja einen hübschen deutschen Jungen kennen. Wobei – lass mich überlegen – die sind eigentlich nicht hübsch. Und Humor haben die auch nicht. Such dir besser einen von uns – es gibt ja genug da drüben.“ – „Ja, das sowieso.“ „Und installier’ dir auf jeden Fall Skype. Dann können wir jeden Tag quatschen.“ – „Jap.“ Eine kurze Umarmung – das war’s. Der Abschied. Alina war wütend. Wütend über dieses Gelabere über Schnitzel und hübsche Jungs und dass sie nicht den Mut hatte, sich wie eine Erwachsene zu verabschieden. Vielleicht nahm sie die ganze Situation aber auch zu ernst. Hanka meinte, dass sie sich ja schon zu Weihnachten wiedersehen – also in vier Monaten. Und was sind schon vier Monate, meinte Jan. Alina verspürte Vorfreude. Sie stellte sich vor, wie sie in vier Monaten von den neuen Erlebnissen in Deutschland erzählen wird. Es war das erste Mal seit vielen Wochen, dass Alina beim Gedanken an die Zukunft etwas Positives verspürte. Und gleichzeitig machte es ihr Angst. Es ist an der Zeit diesen Gefühlen endlich Platz zu machen, hatte Alinas Großmutter ihr vor ein paar Tagen gesagt. Vielleicht war es tatsächlich so.

 

Abfahrt

„12. August 2001. Ein wunderschöner Sonntagmorgen.” Diese Worte schrieb Alina in ihr Tagebuch. Der Tag der Abfahrt. Unten vor dem Haus packte Papa noch die restlichen Taschen und Koffer ins Auto und Mama schmierte Butterbrote für die Fahrt. Alina saß auf dem Boden ihres leeren Zimmers. Es kam ihr so groß vor, ohne die ganzen Möbel. In Deutschland wird sie kein eigenes Zimmer haben. „Zunächst einmal nicht“ hatte Papa gesagt. „Bevor wir nicht etwas Größeres finden.“ Nun ist es so weit. Lange hatte Alina versucht, die Gedanken an diesen letzten Tag in ihrem Haus von sich zu weisen. Noch bis zuletzt hatte sie gehofft, dass plötzlich etwas die Abfahrt verzögern oder gar verhindern könnte. Doch nichts dergleichen passierte. „Alina. komm! Papa und Julian warten schon im Auto!“, rief Mama aus der Küche. Alina blieb noch einen Moment sitzen.

„So, jetzt fängt mein neues Leben an.“, sagte sie zu sich selbst.
„Was hält es für mich bereit? Keine Ahnung. Werde ich glücklich sein? Keine Ahnung. Werde ich Deutschland mögen? Keine Ahnung. Ich habe keine Erwartungen. Ich werde das Beste daraus machen.“

Sie stand auf und verließ das Haus.

 

Diese Kurzgeschichte von Patricia Block entstand im Rahmen des Seminars Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.