Erinnern als Übersetzen: Marica Bodrožić und die Psychoanalyse des Sprachwechsels

„Was passiert, wenn Texte mehrsprachig werden?“…

… Dies war die zentrale Frage, die Jun.-Prof. Dr. Esther Kilchmann in der dritten Sitzung unserer Vorlesung beschäftigte. Die Grundlage zur Untersuchung war das Werk von Marica Bodrožić, einer Autorin aus Berlin. In ihren Büchern beschäftigt sich die Schriftstellerin mit der sprachlichen und gesellschaftlichen Situation im postjugoslavischen Bereich. Sie selbst hat einen Migrationshintergrund: Bodrožić ist 1973 in Split (Kroatien) geboren und kam mit 10 Jahren nach Deutschland. So geht es der Autorin in ihren Texten um die Darstellung eines Raumes, in welchem sie selbst einst gelebt hat, dem Dalmatien, welches für sie „nur in der Sprache existiere“. Diesen Ort beschreibt sie als stark literarisiert und verbindet ihn mit ihren eigenen Kindheitserinnerungen. Die Texte sind jedoch nicht als autobiografisch zu betrachten. Alle Texte sind in deutscher Sprache verfasst, Sprachwechsel gibt es bei ihr weder innerhalb eines Buches, noch zwischen ihren Büchern. Die Mehrsprachigkeit wird jedoch zum zentralen Thema bei Bodrožić: Durch ihre Texte werde, so Kilchmann, eine neue Literatursprache gewonnen. In ihrem Vortrag bezog sich Jun.-Prof. Dr. Esther Kilchmann besonders auf die Romane Sterne erben, Sterne färben (2007), Das Gedächtnis der Libellen (2010) und Kirschholz und alte Gefühle (2012).

Zur literarischen Mehrsprachigkeit im Allgemeinen lässt sich zunächst Folgendes sagen: Das literaturwissenschaftliche Interesse daran unterscheidet sich beispielsweise von den Interessen, die die Sprachwissenschaft verfolgt. Es ist also nicht das Abbild der Soziolinguistik, das das Interesse der Literaturwissenschaftler an Texten der Mehrsprachigkeit erweckt, sondern die ästhetischen Verfahren wie z.B. die Verfremdung. Seit der Jahrtausendwende sind AutorInnen, die sich mit Mehrsprachigkeit auseinandersetzen, in Deutschland immer interessanter. Dazu zählen unter anderem auch die Texte der sogenannten Gastarbeiterliteratur. Mehrsprachigkeit in der Literatur war in Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, in denen es lange selbstverständlich war, dass Schriftsteller in ihrer Muttersprache schreiben, sehr exotisch. In den Zeiten der Globalisierung hat die Literatur ihre Schauplätze sowie die Sprachgrenzen ausgeweitet; somit entsteht eine neue Weltliteratur. Viele der mehrsprachigen AutorInnen haben selbst Literaturwissenschaft studiert und vermischen Wissenschaft und Kunst in ihren literarischen Texten. Das Thema ihrer Texte ist die kulturelle Zugehörigkeit – es sind sogenannte Literaturen ohne festen Wohnsitz. Diese haben ein dynamisches Konzept und zeigen ein ständiges Springen zwischen Kultur und Literatur auf. Ein Kriterium der Literatur ohne festen Wohnsitz ist, dass sich mehrere Sprachen wechselseitig durchdringen. Neben der Multilingualität, dem Nebeneinanderexistieren mehrerer Sprachen (beispielsweise der Sprachenvielfalt in Europa), die miteinander durch Übersetzung kommunizieren, gibt es die translinguale Sprache.  Diese wird im Text selbst zum Medium, in dem sich Transitbewegungen aufzeigen lassen.

In Bodrožićs Texten findet sich ein stetig ändernder Erzähler, also eine wechselnde Erzählperspektive. Die Protagonisten haben immer einen Migrationshintergrund. Allgemein lassen sich in den Texten zwei Dynamiken feststellen: die Mehrsprachigkeit, verbunden mit dem Sprachbewusstsein der Charaktere und das Erinnern der poetischen Evokation der Kindheit. So kehrt eine Protagonistin immer wieder nach Dalmatien zu ihren Großeltern zurück, wobei bereits Erzähltes wieder neu erzählt wird.

Marica Bodrožić operiert in ihren Texten auf mehreren Ebenen mit Mehrsprachigkeit. In der von ihr verwendeten Poetik der Mehrsprachigkeit fungiert Sprache als Erinnerung; eine Einzelsprache ist ein Gedächtnisraum. Die Autorin ist der Meinung, dass Sprache ein unbestechliches Gedächtnis hat und ihre Wege nicht maßregelbar sind. Dabei ist sie ein interkulturelles Konstrukt: nie ganz rein und stets das Ergebnis von Wanderbewegungen. Die deutsche Sprache funktioniert für die Autorin wie ein Gerüst: Erst durch die Übersetzung ins Deutsche lassen sich ihre Erinnerungen artikulieren und die eigene Identitätsfindung der Protagonisten ihrer Texte vollziehen. So dient die Sprache als Mittel zur Verarbeitung eines Traumas, da durch den Sprachwechsel eine Distanzierung zum Thema stattfindet. Das Sprechen über das Trauma wird durch die andere Sprache ermöglicht. Die Situation ist ambivalent: Was in einer Sprache erlebt wurde, wird in einer anderen Sprache erzählt, die mit dem Erlebten nichts gemein hat. Das Unaussprechliche wird durch die Zweitsprache zum Ausdruck gebracht. Das Deutsche habe, wie Bodrožić selbst sagt, die Erinnerung verglast. Sie ist noch sichtbar, doch die Person hat eine Distanz zu der Erinnerung gewonnen. Die Erstsprache ist dabei also eine traumatische Leerstelle, welche durch die Zweitsprache gefüllt wird. Was die Autorin mit ihren Texten bewirkt, ist die Übertragung der dalmatischen Kindheit in die deutsche Sprache und Kultur.

Autorin: Kristina Diakonov


Weiterführende Literatur:

Kilchmann, Esther (2012): „Poetik des fremden Worts. Techniken und Topoi heterolingualer Gegenwartsliteratur.“ In: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 3:2, 109-130.

Bischoff, Doerte / Gabriel, Christoph / Kilchmann, Esther (2014): „Sprache(n) im Exil. Einleitung.“ In: Dies. (Hrsg.): Sprache(n) im Exil. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch 32/2014. München, 9-25.