Oral History #4 – MARS

 

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„Als sie ihren Vater erblickte, war ihre Wiedersehensfreude wie weggeblasen. Da stand er nun. Er drückte die Kinder an sich. Es fühlte sich merkwürdig an.”

Das Pfeifen der Lok am Bahnhof riss Anna aus ihrem Halbschlaf. Es war noch mitten in der Nacht. Sie standen am Gleis, Andrzej fielen noch immer die Augen zu, Babcia plapperte aufgeregt vor sich hin und Mama war still und ganz grün im Gesicht. Können wir endlich einsteigen, fragte Anna ungeduldig. Sie konnte es kaum erwarten. Endlich nach Deutschland, endlich zu Papa. Wie auf Kommando drehte sich Babcia zu Anna um und drückte sie fest an sich. Bis Bald, Niunia, flüsterte ihr Babcia ins Ohr. Die Umarmung dauerte nicht lange, weil Babcia sich sofort zu Andrzej umdrehte und dann schließlich Mama in die Arme nahm, auch das ging ganz schnell. Ein zweites, viel schrilleres Pfeifen ertönte, diesmal von einem Mann in Uniform am Bahnsteig. Mama griff mit der einen Hand nach dem großen Koffer und mit der anderen nach Andrzejs Arm. Los, Ania. Schnell in den Zug, sagte Mama und wartete darauf, dass Anna als erstes die Stufen zum Wagon hinaufging.

Vor Freude sprang Anna in einem Satz in den Zug. Noch bevor sie ihren Platz fanden, setzte er sich in Bewegung. Der Zug war voll. Sie suchten erst gar nicht nach einem Fensterplatz, um Babcia zum Abschied zu winken. Sie hätten sie vermutlich eh nicht mehr gefunden. Noch nie hatte Anna so viele Menschen und Koffer auf einmal gesehen. Alle redeten durcheinander und suchten nach ihren Plätzen, versuchten die Koffer nach oben auf die Gitter unter der Decke zu hieven und standen sich dabei gegenseitig im Weg. Es waren mehr Koffer als Menschen. Weiter Ania, stupste Mama sie von hinten an und Anna versuchte, sich einen Weg durch die Koffer und Menschen zu bahnen. Kurze Zeit später standen sie vor einem Abteil in dem bereits drei Menschen saßen. Mama schob die Tür auf, schubste Anna hinein und zog Andrzej mit sich. Ein Mann stand auf, nahm Mama den Koffer aus der Hand und verstaute ihn über den Sitzen. Kurz fragte Anna sich, wie viel diese Gitter wohl aushalten würden. Mama bedankte sich knapp und setzte sich. Es herrschte Stille im Abteil. Die Erwachsenen redeten nicht miteinander, Mama blätterte die ganze Zeit in ihren Dokumenten herum, Andrzej war wieder eingeschlafen und Anna rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Mehrere Versuche, ein Gespräch mit Mama aufzubauen, scheiterten und so versuchte Anna von ihrem Platz aus durchs Fenster zu blicken, um als erste die deutsche Grenze zu sehen.

Deutschland – da wo Annas Vater schon seit fünf Jahren lebte. Sie war sich nicht mehr so sicher, wie er aussah, aber seine Stimme kannte sie gut, schließlich haben sie häufig telefoniert. Sie vermisste ihn sehr und die tollen Geschenke aus Deutschland waren nur ein kleines Trostpflaster dafür, dass sie immer nur mit Mama zusammen waren. Als Anna ihren Freunden von ihrer Reise nach Deutschland erzählt hatte, waren sie ziemlich unbeeindruckt gewesen, denn schon viele aus ihrer Schule waren mit ihren Familien nach Deutschland ausgewandert. Auch Papas Eltern waren schon in Deutschland. Bald würden sie alle wieder zusammen sein.

Anna wachte aus ihrem kurzen Tagtraum auf, als alle Passagiere in dem Abteil aufstanden und ihre Koffer herunterhievten. Die Menschen drängten sich aus dem Zug, doch Mama hielt die beiden Kinder zurück, um als letzte aus dem Abteil zu gehen. Im Bahnhof herrschte reges Treiben, Leute liefen eilig an ihnen vorbei und zogen die Koffer hinter sich her. Sind wir jetzt da, fragte Anna zu Mama gewandt. Mama murmelte nur ein Nein, wir sind in Berlin, und blätterte zum mittlerweile tausendsten Mal in den Dokumenten herum. Sie blickte und nervös zu ihren Kindern. Anna spürte, wie die Nervosität auf sie übersprang, sie wünschte, sie hätte auch Zettel zum Durchblättern. Mama legte die Hände der Kinder auf den Griff des großen Koffers, sie musste nach dem Weg fragen. Haltet den Koffer fest und wenn sich auch nur einer von euch ein Stück wegbewegt, bringe ich euch um, sagte sie und ließ Andrzej und Anna in der Menschenmenge zurück.

Es dauerte nicht lange und Mama kam mit einem erleichterten Gesichtsausdruck zurück. Sie führte die Kinder zu einem kleinen Wartehäuschen am Bahnhof. Wir warten hier, bald kommt der Zug mit dem wir nach Westberlin fahren, sagte sie im Gehen. Westberlin – fragte sich Anna, sie waren doch schon in Berlin. Es war schon ein wenig komisch, dieses Deutschland. Zwischen den Menschen mit Koffern standen ebenso viele Soldaten. Mit Gewehren. Und Hunden. Ob die wohl auch nach Westberlin wollen? Einer der Soldaten wollte Mamas Dokumente sehen, der Glückliche! Er studierte sie eindringlich und nickte. Abermals schnappte sich Mama Andrzej und den Koffer und wieder musste Anna vorgehen. Dieser Zug sah anders aus. Eine S-Bahn, sagte Mama, wir fahren nicht lange. Wenige Minuten später stiegen sie aus der S-Bahn aus. Mama lachte. Das erste Mal auf dieser Reise. Komisch, dachte sich Anna, denn Mama sah gleichzeitig aus, als wolle sie weinen. Diesmal ließ Mama sie nicht zurück. Andrzej und den Koffer an den Händen, Anna vorweg, folgten sie einer Gruppe Polen – sie sprachen zu mindestens Polnisch – zum nächsten Zug. Wie häufig sie wohl noch umsteigen würden? In diesem Zug sah es ganz anders aus. Es war nicht so voll und es waren mehr

Menschen als Koffer zu sehen. Mama war nun ein bisschen ruhiger und ging hinter Anna und Andrzej her, der Koffer schleifte über den Teppichboden. Sie suchten sich ein leeres Abteil, Mama ließ den Koffer auf dem Boden stehen und Anna setzte sich sofort ans Fenster. Andrzej ließ sich in den Sitz vor ihr fallen. Gerade als der Zug sich in Bewegung setzte, öffnete sich die Tür zu ihrem Abteil. Ein älterer Mann trat ein. Guten Tag, sagte er zu Mama. Ein Deutscher also. Guten Tag, antwortete Mama, so glaubte es Anna jedenfalls. Der Mann setzte sich auf den Sitz neben Andrzej, der sich nun kerzengerade aufrichtete. Weiter  sprach der Mann nicht, Anna interessierte sich auch nicht weiter für ihn. Der Blick aus dem Fenster war viel spannender. Die Bahnhöfe hatten lustige Namen. Andrzej und Anna versuchten vergeblich, die Namen zu lesen und auszusprechen, doch ehe sie es schafften, fuhr der Zug schon wieder weiter. Nach einiger Zeit sprach der ältere Mann sie an. Ludwigslust, sagte er. Wie bitte, dachte Anna nur. Er zeigte auf das Schild der Haltestelle und wiederholte: Ludwigslust. Anna versuchte ihm nachzusprechen: Lludwikslust. Der Mann lächelte und Anna glaubte, es richtig gemacht zu haben. Sie schwiegen wieder. An der nächsten Haltestelle schauten die Kinder den Mann erwartungsvoll an. Büchen, sagte er. Biechen, wiederholten sie. An jeder der vielen Haltestellen spielten sie das Aussprachespiel, schwiegen wieder und begannen von Neuem.

Die Zeit verging unglaublich schnell und Mama horchte auf, als die Stimme des Zugführers durch das Abteil schallte. Anna verstand nur das Wort Hamburg. Hier lebt Papa! Der Zug wurde langsamer und Mama sagte den Kindern, dass sie nach Papa oder Opa Ausschau halten sollen. Noch bevor der Zug endgültig zum Stehen kam, erblickte Anna Opa Andrzej. Sie stiegen aus dem Zug aus und als sie ihren Vater erblickte, war ihre Wiedersehensfreude wie weggeblasen. Da stand er nun. Er drückte die Kinder an sich. Es fühlte sich merkwürdig an. Mama redete mit Opa Andrzej, der den großen Koffer trug. Papa nahm die Kinder an die Hand und führte sie durch die Menschenmenge. Viele Menschen, wenige Koffer. Hier will wohl keiner weg, dachte sich Anna. Irgendwie sahen die Menschen hier anders aus. Es verschlug ihr die Sprache, als ein Mann in einem weißen T-Shirt an ihnen vorbeiging. Ein T-Shirt! Im Februar!

Während sie durch den Bahnhof liefen, fragte Papa Andrzej und Anna, ob sie etwas Süßes haben wollten. Sie nickten und er führte sie an einen Kiosk. Alles war so unglaublich bunt. Die grellen Farben taten Anna in den Augen weh. Noch nie hatte sie so viele verschiedene Farben auf einmal gesehen. Papa wollte, dass sie sich etwas aussuchen. Etwas hilflos zeigte Anna auf etwas weniger Buntes. Eine schwarze Verpackung mit roten Buchstaben: MARS. Papa nahm zwei und bezahlte sie. Anna staunte, als sie Papa Deutsch reden hörte. Sie glaubte nicht, jemals so gut wie er sprechen zu können. Sie verließen den Bahnhof und gingen zu Opa Andrzejs Auto, die Kinder jeweils einen Marsriegel in der Hand. Sie quetschten sich ins Auto. Papa redete aufgeregt mit Mama und als Opa losfuhr, drehte er sich zu Anna um. Probiere doch mal, sagte er lächelnd. Sie aß ihren ersten Marsriegel. Und er schmeckte ihr überhaupt nicht.

 

Diese Kurzgeschichte von Shahla Shahriari entstand im Rahmen des Seminars Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.