Figuren des Transnationalen: „Zigeuner“ in der Gegenwartsliteratur

„Es gibt eine Tendenz, das Zigeunerische in Erfahrung von Grenzüberschreitungen als Reflexionsfigur des eigenen Migrantischen zu betrachten.“

In der siebten Sitzung unserer Ringvorlesung sprach Prof. Dr. Doerte Bischoff über die Figuren der Zigeuner in der Gegenwartsliteratur. Ein Thema, das in mehreren Philologien und Fachdisziplinen behandelt wird und hierbei aus einer germanistischen Perspektive, anhand gegenwärtiger deutschsprachiger Texte, behandelt wurde.

Zunächst wurde die Geschichte der Roma in einem historischen Kontext beschrieben und darauf hingewiesen, dass es sich um eine Verflechtungsgeschichte handelt, die im Hinblick auf das Verhältnis zwischen verschiedenen europäischen Ländern erzählt werden muss: Die Roma sind die größte Minderheit in Europa. Eine Minderheit, die mehr als zehn Millionen Menschen umfasst, im europäischen Staatensystem keine nationale Repräsentanz hat und seit 600 Jahren eine Stigmatisierung erduldet. Die schon von Anfang an kritische Situation der Roma in Europa spitzte sich im Zeitalter der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert besonders zu, da damals die Idee des Volkes als eine nationale Gruppierung herausgebildet wurde und dabei die Grenzen zu anderen Nationalstaaten betont wurden. Die Minderheiten, die in eine homogenisierte Gemeinschaft nicht passten, wurden vertrieben und vernichtet. Ein tragischer Höhepunkt in der Geschichte wurde mit der Ermordung tausender Roma während der Schoah erreicht.

Angesichts der neuen politischen Ereignissen in Europa wird seit einigen Jahren immer öfter in den Medien über die Roma berichtet. Die vielfach artikulierten Ängste vor Armut und Migration aus dem Osten in den Westen werden dabei reflektiert. Das Zigeuner-Bild ist von Stereotypen geprägt, die über Jahrhunderte hinweg existieren und sowohl von der Hoch- als auch von der populären Kultur vorgetragen worden sind. Es sind zwei unterschiedliche Arten von Stereotypen zu unterscheiden: die positiven (Idealisierung) und die negativen. Literarische Texte können diese Stereotype affirmieren und perpetuieren. Sie können sie aber auch destabilisieren, indem sie vorführen, wie solche Stereotype funktionieren. In Osteuropa werden die Roma wegen ihres hohen Anteils in unterschiedlichen Regionen literarisch weniger idealisiert als in Westeuropa. Osteuropa hat mehrere Minderheiten, aus diesem Grund ist die nationale Assimilation dort weniger stark. Ohnehin ist es bemerkenswert, dass einige Texte des rumänischen Nationalepos Ziganiade heißen, Zigeuner im Titel tragen und eine Art Parallelisierung von Rumänen und Roma betreiben.

In ihrem Vortrag bezog sich Prof. Dr. Doerte Bischoff auf die gegenwärtigen Romane Engelszungen  von Dimitré Dinev (2003), Jacob beschließt zu lieben von Catalin Dorian Florescu (2013), Der falsche Inder von Abbas Khider (2008) und die Erzählung Lazarus von Dimitré Dinev (2001). Zu diesen literarischen Texten lässt sich sagen, dass sie die Migration aus Osteuropa und die Formen der Ausgrenzung reflektieren und, dass die Roma-Figur dabei häufig präsent ist: man findet mehrfach eine Einbettung von Roma-Erzählungen in der Herkunftserzählungen von nicht zigeunerischen Protagonisten. Das ‘Zigeunerische’ wird in Erfahrung von Grenzüberschreitungen als Reflexionsfigur des eigenen ‘Migrantischen’ betrachtet.

Innerhalb des Vortrags wurde mehrmals auf den Begriff „Zigeuner“ hingewiesen und die umstrittene Frage der angemessenen Bezeichnung thematisiert: Einerseits schreibt die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller in einem Essay über die Künstlichkeit des Begriffes Roma, da „das Wort laut der Zigeuner gut sei, wenn man sie gut behandelte[1]“. Andererseits kommt im Roman Engelszungen von Dimitré Dinev das Wort „Zigeuner“ vor als ein herabsetzender Diskursbegriff in Figurenreden von Figuren, die besonders gegen die Zigeuner eingestellten sind.


[1] Müller, Herta: „Der Staub ist blind – die Sonne ein Krüppel. Zur Situation der Zigeuner in Rumänien“, Frankfurter Allgemeine Zeitung (1991).

AutorIn: Ares Guivernau Almazán