Übersetzungskurs

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Übersetzung 1: Meine Reisen nach Sibirien

tschechisch_7Du, glücklicher Morgen, und Du, guter Sonnenuntergang,
funkelnde Steine in Kinderhänden,
mein weißes Rentier mit schwärzlichem Geweih,
mit Freude im Herzen,
wo seid ihr?
Mit weißem Schnee und hohem Himmel,
mit riesiger Tundra und mutigen Menschen,
wo ist mein Land?
Gewissen, Ehre, Hoffnung, Träume,
Messer, Gewehr, meine Zeit, Beute?
Wo ist die grausame und gute,
schreckliche und aufrichtige Welt?
Nichts, überhaupt nichts mehr ist geblieben …
Nicht einmal ich.,
und nicht einmal ich bin hier.
Alles ist ohne mich geblieben in diesem Land.

Dieses Gedicht hat Mischa Kolesov, ein ewenkischer Jäger aus dem Werchojansker Gebirge, geschrieben. Als er einst durch die Berge streifte, flog über seinen Kopf ein Adler hinweg und zu seinen Füßen ließ sich eine Adlerfeder nieder. Mischa hob sie auf, ohne zu wissen warum. Als den Dichter zu Hause im Dorf wieder die Sehnsucht nach den Bergen packte, kam ihm die Idee, mit dieser Feder einen Zauber zu versuchen: Das Ende der Feder abzuschneiden und eine Mine hinein zu rammen. „Damit werde ich jetzt Verse schreiben!“ sagte er und da änderte sich auch gleich seine Stimmung. Die Sehnsucht war wie weggeblasen.

Auch ich habe eine Adlerfeder aus dem Werchojansker Gebirge zuhause und auch ich sehne mich zurück, ist doch klar. Aber ich bin gerade knapp bei Kasse und werde in diesem Jahr zu keiner Expedition aufbrechen. Kein ordentlicher Auftrag weit und breit und über Wasser hält mich nur die Möglichkeit, Fernsehreportagen über Ausländer zu machen, die in Tschechien leben. Ukrainer, Russen, Inder, Japaner, Afghanen, Vietnamesen, Afrikaner, alle möglichen Migranten und ihre Probleme mit Visa und Asylanträgen, illegalen Grenzüberschreitungen und gefälschten Papieren, Gewerbescheinen und erpresserischen Mafiosi, Scheinehen, exotischen Krankheiten und Volkstümlichkeit, das sind meine Brötchengeber. Beiseitelegen kann man davon nichts. Es ist mehr als nervig, wenn mich dauernd jemand fragt, wann ich wieder aufbreche, und wenn ich mir dümmliche Bemerkungen hören muss, dass ich immer schlitzäugiger werde.

Auch fragt man mich gerne, wann ich ein Rentier mitbringe und endlich so eine Tschuktsche heirate.

tschechisch_8Das geht mir auf die Nerven, aber ich sollte mich nicht wundern: immer erzähle ich irgendwelche Geschichten aus Sibirien und die Leute denken, dass ich eher dorthin als hierher gehöre. Vielleicht ist da etwas dran. Es stimmt schon, dass ich eine Menge gute Geschichten kenne, aus denen sich eine nützliche Moral ableiten ließe, bloß in die Situationen, auf die sie sich beziehen, wird unsereiner kaum geraten. Ich weiß viel über Menschen, mit denen ich nicht lebe, aber sehr wenig von denen um mich herum. Letzten Monat ist ein Nachbar gestorben, erfahren habe ich es erst gestern. Dass etwas dem Rentier passiert ist, auf dem ich letztes Jahr geritten war und welches die Nomaden nach meiner Abreise nach mir benannt hatten, das wusste ich fast sofort. Angeblich wurde es von einem Wolf in den Oberschenkel gebissen, so dass es jetzt hinkt. Aber es hat überlebt, hat sich nicht auffressen lassen. Das haben mir diese Nomadenkinder am Telefon erzählt. Im Winter leben sie mit den Müttern in der Siedlung, werktags gehen sie zur Schule und sonntags wählen sie aus Langeweile meine Telefonnummer.

Manchmal weckt mich ihr Klingeln mitten in der Nacht. Der achtstündige Zeitunterschied stört sie nicht, sie denken nicht mal daran, wenn es sie überkommt.

„Wie geht‘s denn so?“, fragen sie ganz aufgeregt, denn sie sprechen mit dem Fremden.

„Gut“, antworte ich.

„Was machst Du?“

„Ich schlafe gerade.“

„Wieso schläfst Du?“

„Weil bei uns Nacht ist.“

„Aha. Und bei uns ist jetzt Tag.“

Das sind die Gespräche, die wir führen. Meistens dauern sie nicht lange.

Nicht wie früher bei Angela und mir, als wir pausenlos unser Zeug abspulten:

„Wieso bist Du nicht bei mir?“

„Weil ich hier bin.“

„Warum ist die Welt so schrecklich groß?“

„So groß ist sie auch wieder nicht.“

„Wieso kann ich Dich hören, als wärest Du nebenan?“

„Weil ich nebenan bin.“

„Dein Nebenan ist mehr als ein einen halben Planeten entfernt.“

„Das stimmt.“

„Aber ich will nicht, dass es mehr als ein halber Planet ist.“

„Das hilft nichts.“

„Ich will, dass Du hier bist, damit ich Dich umarmen und küssen kann.“

„Vielleicht hilft’s, wenn du auf dem Boden stampfst und schreist.“

„Iiiii“

Ich höre sie stampfen und pfeifen, aber das hilft nicht. Und dann gleich wieder:

„Das letzte Mal habe ich mit Dir meine ganze Witwenrente vertelefoniert.“

„Herrgott, dann ruf mich nicht an!“

„Warum denn nicht?“

„Du ruinierst Dich.“

„Na und?“

„Du wirst kein Geld mehr haben“.

„Hab ich sowieso nicht“.

„Es wird aber noch schlimmer.“

„Pöh…“

Einmal, als Angela auf der Post die Telefonrechnung bezahlte, redeten die Frauen ihr ins Gewissen. “Schon wieder dein Prag, Angela? Hältst du dich für eine Millionärin?“ Sie erzählte mir daraufhin, wie sie sie zum Kuckuck geschickt hatte und ich darauf: „Hast du das echt gesagt?“

„Ja.“

„Dass sie sich zum Kuckuck scheren sollen?“

„Etwas anders-“

„Wie anders?“

„Willst Du es hören?“

„Ja.“

„Du wirst dich nicht erschrecken?“

„Schieß los.“

„Ich hab gesagt…Du wirst Dich erschrecken.“

„Ich erschreck mich nicht so leicht.“

„Ich sagte ihnen: Ihr leergefickte Weiberhirne, mischt euch nicht in mein verficktes Leben ein!“

tschechisch_9Und ihr lautes Koloraturlachen zerreißt mir das Trommelfell.

Einmal im Winter hatte ich bei einem Telefonat mit ihr ein lustiges Erlebnis. Angela hatte mir vorher wiederholt zugeredet, sie zu vergessen, unsere Beziehung hätte keine Perspektive und ich sollte mir in Prag eine Frau oder wenigstens eine Geliebte finden. Jedes Mal habe ich ihr gesagt, dass sie mit dem Quatsch aufhören soll, aber einmal hatte ich wirklich eine Frau bei mir und wir machten gerade unter der Bettdecke rum, als Angela anrief. Ich hätte nicht ran gehen müssen, aber ich nahm den Hörer ab und freute mich, ihre Stimme zu hören. Ich freue mich jedes Mal.

Sie kam von einer durchzechten Nacht und es war ihr weder ihr Geld noch mein Privatleben wichtig.

„Wie geht es Dir?“ fragt sie.

„Ich schlafe“, log ich.

„Wie spät ist es bei Euch?“

„Zwei Uhr nachts:“

„Echt?. Entschuldige.“

„Macht nichts. Und wie ist es bei Euch in Shigansk?“

„Normal. Frost, Schnee, alles weiß…“

„Bist du betrunken?“

„Ein wenig. Warte, ich spiel dir was vor.“

Gleich danach höre ich eines dieser russischen Diskolieder im Hörer kratzen, die wir in Jakutsk an den Kiosken gehört haben.

Probier‘s hummmm! hummmm!

Probier’s tschaka tschaka!

Probier’s Ooch! Oooch!

Ich brauch das, brauch das!!

Schon wieder scheint’s mir, als dreht sich mein Kopf…

Mein Marmeladensüßer, ich war im Unrecht!

Und dazwischen erzählt sie mir, dass sie schlechte Laune hat, weil ihre Freundin Vika ihr ein rotes Kleid geschenkt hat, das ihr überhaupt nicht gefallen hat und sie es deshalb zum Schluss verkaufen musste, und wie schrecklich es mit den Menschen ist, wenn ihr Gefühl vom Glück oder von Traurigkeit von irgendwelchen Stofffetzen abhängt.

„Und mir sind Klamotten schrecklich wichtig “, sagte sie schließlich.

„Komm nach Prag“, sage ich. „Hier gibt es haufenweise Klamotten, du findest schon was.“

tschechisch_10Plötzlich begann sie laut zu träumen, wie es wäre, wenn sie wirklich kommen und mit mir irgendwo über den Boulevard trippeln würde, in Blüschen und knallengem Rock, mit Highheels und Kontaktlinsen, modern frisiert, dezent geschminkt und ganz und gar einwandfrei, so dass sich alle nach uns umdrehen würden. Und weil hier sicher keiner von irgendwelchen Jakuten und Ewenken eine Ahnung hat, würden sich alle wundern, wie sich ein hiesiger Kerl eine so liebreizende Japanerin hat angeln können. Und ich ergriff die Gelegenheit und redete schon wieder auf sie ein, Mut zu fassen und zu kommen. Dass sie es sicher lernen würde, hier zu leben, das wäre nicht schwierig und den meisten Ausländern würde es hier gefallen. Ich muss es ja wissen, ich habe ständig einen von ihnen vor der Kamera. Aber sie schaltete das Radio aus und es kam kein oooch und hummm … mehr, nur ihr Seufzen: „Wo soll ich das Geld hernehmen? Und wie kommst du darauf, dass ich allein nach Europa reisen könnte? Ich, die schon Angst hat, allein vors Haus zu treten? Ich, die schon 100 Meter hinterm Dorf vor lauter Panik stirbt, dass mich ein Bär fressen könnte. Mir macht schon der Weg zur Post Angst und mir wird vor jeder Behörde schlecht. Für Dich ist es nichts, durch die halbe Welt zu fliegen, aber wenn ich mich nur ein paar Schritte von dieser schrecklichen, widerlichen Baracke entferne, die ich so sehr hasse, dass ich sie mit meinen eigenen Händen niederreißen könnte, komme ich mir wie eine welke Zimmerpflanze vor, die man aus dem Topf herausgerissen hat.“

Wir haben dann noch lange geredet und als sie am Ende in schönem tschechisch „ahoj, ahoj“ sagte, war mein Bett leer. Was soll’s, dachte ich, von Jahr zu Jahre kann ich es ohnehin immer schlechter ertragen, eine andere Person unter meiner Bettdecke zu haben.

Angela würde ich aber ertragen, sie ist klein und schmal, viel Platz nimmt sie nicht ein.

Oft habe ich sie zu mir eingeladen und oft habe ich vorgeschlagen, nach Jakutsk umzuziehen, wenn sie nicht zu mir konnte. Ich habe ihr versprochen, zu ihr zurückzukommen, sobald ich das Geld für die Reise aufgetrieben habe und ich habe auch angeboten, sie zu heiraten. Das erste Mal habe ich das sogar schriftlich gemacht, in einem Brief, mit dem ich mir besonders viel Mühe gegeben habe. Statt einer ordentlichen Antwort gab es aber in ihrem Schreiben nur ein paar Zeilen über das Wetter und dann eine Geschichte darüber, wie sie als kleines Mädchen auf einem Schwein geritten war und sich vorgestellt hatte, Tschapajew zu sein, Kommandeur der Roten Armee. Sie ließ den Futtereimer hinter der Tür stehen, schlich sich an die größte Sau heran, die sich gerade am Balken kratzte, sprang ihr auf den Rücken und verpasste ihr einen ordentlichen Tritt. Die erschrockene Sau brüllte vor Schmerz und raste die Wand entlang, Angela zog sie an den Ohren und rief den anderen Schweinen, die in dem Chaos herum rannten und quiekten, ein kriegerisches „Hurrah“ hinterher, als wären es die flüchtenden Weißgardisten. Dafür hat sie eine fürchterliche Tracht Prügel einstecken müssen. Die Sau war trächtig und hat tote Ferkel zur Welt gebracht.

„Wirklich traurig“, merkte Angela an. „Das war damals ein schreckliches Fehlverhalten von mir.“

tschechisch_11Ein Fehlverhalten, jawohl. Der Brief brachte mich echt auf die Palme: Ich schreibe ihr über ernsthafte Dinge, will wissen, welche Gedanken sie umtreiben und ob sie mit mir in der Zukunft rechnet, und sie antwortet mit solch ungeheuerlichem Blödsinn. Aber vor allem war ich sauer auf mich, dass ich sie dazu provoziert hatte. Ich hätte mir denken können, nach all dem, was wir gemeinsam erlebt haben, dass Angelas Reaktion ungefähr so ausfallen könnte, dass sie einer direkten Antwort ausweichen und als Postskriptum nur schreiben würde: Warum sind wir nicht im Mittelalter geboren worden? Ich würde Knickse machen und Du den Degen schwingen. Trotzdem habe ich über ihre Schweinestallgeschichte später doch noch gelacht. Statt der kleinen Angela stellte ich mir jemanden wie Menik Menigien vor, den jakutischen Märchenkobold, der Kindern ihren Kopf und Pimmelchen abreißt, die eigene Mutter in den Ofen schiebt und verschnabuliert und mit seiner Schwester schläft, einer, der alles auf den Kopf stellt, und auf den man sich nie verlassen kann und der trotzdem kein ausgesprochen negativer Held ist, eher ein fröhliches Gespenst der Rebellion, ein schreckliches, kleines Teufelchen, der alle erlöst. In einem jakutischen Lied heißt so der Wind, von dem man schwer sagen kann, woher er weht.

Genau so ist meine Angela.

Früher hatte ich die Angewohnheit, mir beim Einschlafen hinter geschlossenen Lidern ihr Gesicht vorzustellen, aber das mache ich nicht mehr. Ich mag es nicht, sie so zu sehen. Bilder, die in meinem Kopf flimmern, sind skizzenhaft und flüchtig, man kann sie nicht ordentlich anschauen und das regt mich auf. Es ist wie Wasser mit einem Sieb zu schöpfen. Und Fotos zu betrachten, regt mich doppelt auf, weil sie wiederum zu deutlich und endgültig sind. Angela sieht auf ihnen so starr, unveränderbar und für immer gleich aus, dass sie der echten Angela eigentlich nicht wirklich ähnelt und ich daher die Fotos häufig am liebsten zerreißen möchte. Es kommt mir nämlich so vor, dass ich ihretwegen vergesse, wie die kapriziöseste Frau der Welt aussieht. Ich vergesse ihren Mund, der so außergewöhnlich geschwungen ist, dass er lächelt, auch wenn sie es nicht will. Ihre Augen, die nicht ganz schräg sind. Ihre kleine, nicht ganz flache Nase. Ihre Haare, die es nicht schaffen, richtig glatt zu bleiben. Alles, was von ihrem gemischten Blut zeugt. Eines Tages werde ich die Fotos tatsächlich aus der Welt schaffen, bis auf das eine, auf dem Angela als kleines Mädchen in Schürzchen und Turnhose hockt und einen Hund hält. „Ich sehe wie’n kleiner Betteljunge aus“, hat meine Liebe gesagt. „Man würde mir glatt ne Kopeke zuwerfen, dabei habe ich den Hund ganz schrecklich gequält …“

Menik Menigien, höstpersönlich. Nur dieses eine Bild werde ich behalten.

Übersetzt in einer Zusammenarbeit von Helene Jermolenko, PhDr. Petr Málek, Rosemarie Wiora, Dominika Imnichova und bei der finalen Version auch Eva Profousová

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