Oral History #2 – High Life

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„Wenn man die deutsche Sprache kann, kann aus einem was werden.”

Die Autorin hat ihr Interview anhand des Textes „Interkulturelle Synergien“ von Konrad Köstlin¹ in drei seiner dort genannten Phasen unterteilt: das Aufbrechen, das Wandern und das Ankommen. Die jeweiligen Anmerkungen aus der Literatur werden rechtsbündig dargestellt. 

 

„Üblicherweise wird Migration in den Stadien und Kontexten des Aufbrechens und Wanderns, des Ankommens und – wenn es gut geht – der sozialen und kulturellen Integration gedacht.“ Konrad Köstlin.

Aufbrechen

 

Beim Aufbrechen handelt es sich um den Entschluss zu migrieren, wobei die Kosten und Planung der Reise eine wesentliche Rolle spielen.

Was bewegte Waldemar D. dazu, alleine in ein fremdes Land auszuwandern? Entscheidend waren seine deutschen Wurzeln, die ihm die Möglichkeit boten, für immer in Deutschland zu bleiben.

Welche Erwartungen hatten Sie an das fremde Land?

Am wichtigsten war es mir, die deutsche Sprache so schnell wie möglich zu lernen, weil ich bis dahin nur wenige Wörter kannte. Damals hieß es: Wenn man die deutsche Sprache kann, kann aus einem was werden.

Die Vorbereitungen für die Fahrt nach Deutschland verliefen reibungslos – ein Cousin in Hamburg half ihm. In den späten 80er Jahren war es nicht mehr so schwer, ins Ausland zu kommen, da alle Menschen ihre Reisepässe behalten konnten und nicht, wie früher, wieder abgeben mussten. Somit war es kein Problem, einen Pass zu bekommen. Waldemar D. hatte außerdem den großen Vorteil, dass er durch seine deutschen Wurzeln als Aussiedler in Deutschland gemeldet werden konnte und sich somit nicht um Asyl bewerben musste.

Der Begriff Migration wird oft mit dem Begriff Flucht gleichgesetzt. Flucht aus dem eigenen Land oder der Heimat, wegen Krieg oder sonstigen dramatischen Umständen.

Mit Blick auf einen schlecht bezahlten Job, einer nicht existierenden Sicherheit und einer perspektivlosen Zukunft fasste Waldemar D. den Entschluss zu fliehen. So wie er, flohen viele Migranten in den 80er Jahren mit Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland.

Wandern

 

Dieser Abschnitt bezieht sich vor allem auf die Transportmittel, welche zum Auswandern benutzt wurden und auf die Emotionen, die man während der Fahrt gespürt hat. War es die Angst oder vielleicht die Freude auf einen neuen Lebensabschnitt?

Waldemar D. hat mir einen Einblick in sein damaliges Gefühlschaos ermöglicht:

Wie fühlten Sie sich während der Fahrt nach Hamburg?

Ich fühlte vor allem Angst. Ich hatte Nichts, sprach kein Deutsch und da ich alleine aus Polen floh, musste ich ohne die Hilfe von anderen Menschen klarkommen. Ich wusste nicht, was als nächstes passieren würde. Ich verspürte also eine riesengroße Ungewissheit. Mein Cousin lebte zwar bereits in Hamburg, sein Beruf ermöglichte es ihm aber nicht, ständig für mich da zu sein. Ich spürte Angst und Vorfreude gleichzeitig – werden sich meine Hoffnungen auf ein besseres Leben in Deutschland erfüllen?

Nicht nur Waldemar D. blieb diese Angst vor einem fremden Land mit neuen Menschen und Kulturen genau im Gedächtnis. Auch seine Frau Hanna D. erinnerte sich noch an ihre Sorgen vor der Abreise. Sie machte einige Jahre später die gleiche Erfahrung, als sie von ihrer Mutter zur Flucht aus Polen überredet wurde. Sie erzählte mir, dass sie sich schrecklich gefürchtet habe und nicht wusste, wie sie in einem fremden Land klarkommen würde. Hanna dachte sich, dass die Kulturen so unterschiedlich seien, dass sie vielleicht nicht reinpassen würde. Damals, sagt sie, war alles noch ganz anders. Man war nicht so weltoffen, wie es die Menschen heute sind und man hatte Angst, nicht akzeptiert zu werden.

„Sie ist das Gepäck, das man am Ankunftsort aufmacht oder erst einmal verpackt läßt.”

Köstlin verdeutlicht mit diesem Satz, wie schwer es ist, sich in einer anderen Kultur wiederzufinden. Wird die eigene Kultur mit der Neuen zusammenpassen und angenommen werden? Wie kann man sich integrieren ohne die eigene Kultur und Heimat zu vergessen und Traditionen weiterhin zu pflegen?

Ankommen

 

Der Fokus liegt hierbei auf den ersten Eindrücken, den Startschwierigkeiten und den negativen als auch positiven Überraschungen. Es ist interessant zu erfahren, wie man seinen ersten Job bekommen hat, wo man gewohnt hat und ob man bei all dem auf Hilfe angewiesen war. Und vor allem, ob sich das Auswandern gelohnt hat.

Was war Ihr erster Eindruck von Hamburg?

Katastrophe! Als ich damals in Hamburg, am Steindamm ausstieg, stand draußen überall Sperrmüll rum. Das war für mich ein Schock. Die Menschen hatten alles, was sie nicht brauchten, einfach auf die Straße gestellt – ich verstand nicht, wieso. Als ich die Berge alter Möbel, Teppiche und Fernseher sah, war ich einfach nur sprachlos. In Polen gab es sowas wie Sperrmüll nicht. Insgesamt hinterließ Hamburg aber einen positiven ersten Eindruck auf mich. An meinem zweiten Tag nahm mich mein Cousin mit an den Hafen, um die Schiffsbesatzung abzuholen. Ich konnte den kompletten Hafen überschauen, war auf der Köhlbrandbrücke und betrachtete die Stadt von oben. Dieser Ausblick beeindruckte mich so sehr, dass der Sperrmüll vom Vortag schon längst vergessen war.

Würden Sie nach Polen zurückkehren?

Nein, niemals. Natürlich ist heute alles anders als früher, aber ich fühle mich einfach zu wohl in Deutschland, um wieder auszuwandern. Außerdem sehe ich in Polen leider immer noch keine Zukunft für mich, meine Frau und vor allem für meine Tochter. Sie soll hier in Hamburg ihr Studium beenden und kann so auf eine bessere Zukunft hoffen, als ich es damals konnte.

Würden Sie den Schritt, in ein anderes Land auszuwandern, noch mal so wagen?

Ja! Ich kann es nur jedem empfehlen. Es ist sicherlich kein leichter Schritt und mit sehr viel Hoffen und Bangen verbunden, aber wenn man es wirklich will, schafft man es auch. Man sollte sich nicht fürchten, offen gegenüber neuen Ländern, Kulturen und Menschen sein, vor allem nicht heutzutage, wo sowieso alles anders ist. Damals war es noch sehr schwer, besonders in der Nachkriegszeit, aber mittlerweile ist die Welt so modern und offen, dass man diesen Schritt wirklich wagen sollte.

Auf die Frage, ob Waldemar D. sich mehr als Deutscher oder als Pole sieht, fiel ihm die Antwort nicht so leicht. Er überlegte lange und sagte schließlich: „Ich fühle mich eher wie ein Pole, insbesondere durch all die Traditionen, die wir beibehalten haben, die Religion und die ganzen Familienfeste. Jedoch ist Deutschland jetzt mein Zuhause, nicht mehr Gdynia. Klar, wenn ich in die Heimat fahre, ist es schön zu sehen, wo ich aufgewachsen bin, in welchen Straßen ich gespielt habe, zu welcher Schule ich gegangen bin. Aber richtig Zuhause fühle ich mich in Hamburg.“

Er hat seine Kultur mitgenommen und lebt sie in Deutschland mit seiner Frau und seiner Tochter weiter. Seine Frau kommt ebenfalls aus Polen (Danzig) und die Tochter wurde in Hamburg geboren. Sie besuchte 8 Jahre lang eine polnische Schule, da ihre Eltern sehr viel Wert darauf legten, dass sie Polnisch beherrscht. Sie geben ihrer Tochter ein Stück ihrer Kultur weiter, damit sie weiß, wo ihre Wurzeln liegen.

Dieser kommentierte Interviewausschnitt von Claudia Duszkowski entstand im Rahmen des Seminars Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.


(1) Chiellino, Carmine (Hg.): Interkulturelle Literatur in Deutschland. Köstlin, Konrad: Kulturen im Prozeß der Migration und die Kultur der Migration, S.368