„Ich hatte Heimweh. Insgesamt war es aber keine schlechte Erfahrung. Ich habe meinen Horizont erweitert und Menschen vieler verschiedener Kulturen kennengelernt.”
Die Autorin hat die Erzählungen ihres Vaters kommentiert. Die Interviewausschnitte sind zu drei großen Oberthemen zusammengefasst.
Gedanken vor Antritt des Militärdienstes
Während mein Vater erzählt, denke ich über das von ihm verwendete Wort Heimat nach. Hans Albers bringt es in zwei kurzen Sätzen auf den Punkt:
„Heimat ist da, wo einer stirbt, nicht da wo einer lebt. Und wenn die Reihe mal an mir ist, dann soll es in Hamburg sein.“
Mein Leben hat bereits in Hamburg begonnen und es soll, Hans Albers treu bleibend, auch hier enden. Welcher Ort, wenn nicht Hamburg, sollte meine Heimat sein? Die Wurzeln meines Stammbaumes ragen zwar tief in den Osten Europas, aber ich bin fest in Hamburg verwurzelt. Und mein Vater? Als kleiner Sprössling wurde er umgetopft, um in einem anderen Land Wurzeln zu schlagen. Doch dann zog ihn die militärischen Pflicht zurück und die Ranken der Nation seiner ersten Triebe rissen ihn erneut heraus. Wo also ist seine Heimat?
„Ganz klar, hier! Ich fühle mich zwar mit meinem Geburtsort noch verbunden, aber meine Heimat ist eindeutig in Hamburg.“
Schon als Kind hatte er das so gesehen, erzählt er mir. Schließlich hat er den größten Teil seines Lebens in Hamburg verbracht. Sein soziales Leben spielte sich, abgesehen von den jährlichen Sommerurlauben, ausschließlich hier ab. In Deutschland schloss er die Schule ab und beendete seine Ausbildung.
„Die Ausbildung habe ich 1983 abgeschlossen und das ganz ordentlich. Dann stand ich vor der Entscheidung, ob ich erst einmal weiter arbeite und riskiere, irgendwann aus dem Arbeitsleben herausgerissen zu werden oder ob ich freiwillig für meinen Militärdienst nach Jugoslawien zurückkehre.“
Gedanken nach Beendigung des Militärdienstes
„Ich erinnere mich noch ganz genau, wie komisch es war, als ich beim Verlassen der Kaserne meine Militärkleidung abgeben musste und meine Zivilkleidung anziehen durfte. Es war aber auch eine Erleichterung, endlich wieder ins normale Leben zurückkehren zu können. Als ich nach Deutschland zurückflog, musste ich zur Beruhigung zwei Whiskey-Cola trinken. Es war mein erster Flug und ich hatte ein bisschen Flugangst. Der Flug war zwar in Ordnung, aber als ich dann aus der Abfertigung rauskam, sah ich, dass hinter der Scheibe nur mein Onkel auf mich wartete. Nicht einmal meine Eltern! Da war ich natürlich sehr enttäuscht. Als ich dann aber durch die Tür ging, erwarteten mich da auf einmal 30 Leute mit Transparenten und viel Gegröle! Am Abend wurde dann bei meinen Eltern groß gefeiert. Das war super! Wie eine richtige Heimkehr.“
Ich kann die Erleichterung aus den Worten meines Papas regelrecht heraushören. Wenn man mehr als ein Jahr von Familie und Freunden getrennt ist, und das nicht zum Spaß, sondern für den Wehrdienst, erkennt man, was wirklich wichtig ist.
Militär
“Die Freizeitgestaltung war sehr eingeschränkt. Wir durften zwei- bis dreimal im Monat am Sonntagnachmittag ins Dorf gehen. Es gab drei Kneipen, ein Kino, eine Telefonzelle und ein, zwei Cafés. Da konnte man etwas trinken oder ein Stück Kuchen essen. Das beste war, wenn im Kino mal ein Film lief, den ich noch nicht kannte.“
Das klingt ja langweiliger, als das Störungsbild von arte! Ich habe erwartet, dass mein Vater klagend von der schrecklichen Zeit im Militärdienst in Jugoslawien berichten wird: Wie schwer er es hatte als Fremder im eigenen Land und dass er sich nichts sehnlicher gewünscht hat, als so schnell wie möglich wieder nach Hause zu kommen. Aber stattdessen spricht er von Kaffee, Kuchen und von Kinobesuchen!
„Vor allem die ersten Wochen beim Militär waren hart. Ich wuchs ja in Westdeutschland auf; da hatten die natürlich Befürchtungen, dass ich ein Spion bin. Von einem Offizier wurde ich daher einige Male ausführlich zu meinem Leben und meiner politischen Gesinnung befragt. Da ich mich nie besonders politisch engagiert habe, wiederholte ich nur immer wieder, dass ich als kleines Kind mit meinen Eltern nach Deutschland gezogen bin und dass ich keine Ahnung habe, was er nun von mir hören möchte. Aber auch das ging vorüber.“
Wenn ich mir meinen Vater so ansehe, kann ich mir nicht vorstellen, dass seine Zeit beim Militär wirklich so spurlos an ihm vorbei gegangen ist, wie er es vorgibt. Aber ich sage nichts und höre weiter zu.
„Mit der Sprache kam ich anfangs nicht zurecht. Ich konnte Serbokroatisch weder richtig lesen noch schreiben. Auch in der Jugoslawischen Volksarmee gab es theoretischen Unterricht und in der ersten Unterrichtsstunde – ich glaube es war Waffenkunde oder Politik – fragte mich der Offizier: ‚Soldat, warum schreibst du nicht mit?’ Da musste ich zugeben, dass ich es einfach nicht konnte. Das war mir natürlich ein bisschen unangenehm. Ich habe die Sprache dann aber ziemlich schnell wieder aufgefrischt und Schreiben und Lesen gelernt.“
Er wird vom Offizier vor seinen Kameraden als Analphabet abgestempelt und sagt „Das war ein bisschen unangenehm“?! Ich an seiner Stelle wäre vor Scham im Boden versunken! Aber dann denke ich an peinliche Momente, die mir im Laufe meines Lebens passiert sind und mir werden zwei Dinge bewusst: Zum einen erzählt niemand gerne ausführlich von einer Zeit in seinem Leben, in der man nicht der strahlende Held gewesen ist. Zum anderen verblassen negative Ereignisse schneller und so kommt es einem Jahrzehnte später auch gar nicht mehr so schlimm vor. Dass mein Vater trotzdem auch solche Dinge erwähnt, zeigt mir, welch bleibenden Eindruck diese Demütigungen hinterlassen haben. Durch die Kombination seiner Erzählungen und dem Lesen zwischen den Zeilen gelingt es mir, einen realistischen Einblick in sein Leben von vor über 30 Jahren zu erhalten.
„Beim Militär habe ich mich nie so richtig wohl gefühlt. Ich hatte Heimweh. Insgesamt war es aber keine schlechte Erfahrung. Ich habe meinen Horizont erweitert und Menschen vieler verschiedener Kulturen kennengelernt, da Jugoslawien ja auch ein Vielvölkerstaat war. Aus dem Kosovo kamen junge Männer, die genauso schlecht Serbokroatisch sprachen wie ich – sie sprachen mehr Albanisch. Einige Kameraden sahen beim Militär zum ersten Mal fließendes Wasser und elektrischen Strom – in dem Dorf, aus dem sie kamen, gab es sowas nicht. Ach, ich hätte mir diese 14 Monate gerne gespart, dann hätte ich in Deutschland bleiben und arbeiten können, aber andererseits war es gar nicht so schlimm. Es musste einfach sein.“
Rückblickend betrachtet hat sich mein Vater genau zum richtigen Zeitpunkt dazu entschlossen, seinen Wehrdienst abzuleisten. Er meldete sich damals freiwillig zur Musterung, ohne von der jugoslawischen Regierung dazu aufgefordert worden zu sein. Vielleicht wäre er auch nie angeschrieben worden. Vielleicht wäre er aber auch zu einem Zeitpunkt eingezogen worden, bei dem es nicht nur „zur Übung“ gewesen wäre. Zwischen seinem Wehrdienst und dem Ausbruch des Krieges 1991 lagen schließlich nur wenige Jahre. Ich will mir gar nicht ausmalen, welche Erinnerungen er sonst jetzt mit mir teilen würde. Falls er es überhaupt wieder zurück nach Deutschland geschafft hätte. Mein Magen zieht sich bei dem Gedanken, dass eine so kurze Zeitspanne vielleicht sein Leben gerettet hat, leicht zusammen. Mein Vater scheint daran jedoch keinen Gedanken zu verschwenden.
Dieser kommentierte Interviewausschnitt von Sandra Sukola entstand im Rahmen des Seminars Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.