Der vergessene Krieg

Zhadan, Serhij, Internat. Übersetzt von Sabine Stöhr und Juri Durkot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018.
Gebunden, 300 Seiten. 22 Euro. ISBN 978-3-518-42805-4

 


Stell Dir vor, es ist Krieg1

… und Du bist mittendrin.


 

Seit über 4 Jahren herrscht im Osten der Ukraine Krieg – Regierungstruppen kämpfen gegen Separatisten in den selbsternannten Volksrepubliken von Donezk und Luhansk. Serhij Zhadan schildert in Internat die Ungewissheit und Orientierungslosigkeit, die der junge Lehrer Pascha bei einer Odyssee durch seine belagerte Heimatstadt erlebt.

Es sind die ersten kalten Tage des Jahres, kurz nach dem Neujahrsfest, als Pascha von dem Eisenbahnerhäuschen am Stadtrand, das er mit seinem Vater und seiner Schwester bewohnt, aufbricht. Er holt seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt ab. Auf der Fahrt im Minibus dämmert ihm, dass etwas nicht stimmt. Die Straßen sind menschenleer, Soldatengruppen mit Maschinengewehren blockieren die Wege. Er reist durch eine trostlose Kriegskulisse, aus der belagerten Stadt schleppen sich Verletzte. Sie fliehen vor den neuen Machthabern. Der Machtwechsel steht kurz bevor und die ukrainischen Soldaten haben die Stadt aufgegeben. Die Reise zum Internat wird zu einer Irrfahrt. Er wird in einem belagerten Hotel festgehalten, flieht mit dem Taxi, findet Unterschlupf in einem Bahnhof und tritt die Weiterreise zu Fuß an. Weggefährte teilen und kreuzen seine Wege – stets ist unsicher, ob es sich um Freund oder Feind, freundlich gesinnten Feind oder feindlich gesinnten Freund handelt. Ihn schockiert, was er sieht. Lange hat er versucht, diesen Krieg zu umgehen, zu ignorieren – nun ist er mittendrin. Die Wucht dieser Erkenntnis trifft ihn mit voller Kraft. Als er nach einem Tag das Internat erreicht, wird er von der Heimleitung und seinem missgestimmten Neffen empfangen. Doch die größte Herausforderung steht noch bevor. Die Rückfahrt aus dem Epizentrum der Kämpfe gelingt ihnen kaum – die neuen Machthaber etablieren ihre Macht in der Stadt.

Serhij Zhadan, vielfach übersetzt und ausgezeichnet, gelingt mit diesem Buch die Schilderung eines bedrückenden Krieges, in den der 35-jährige Lehrer Pascha hineinstolpert. Zhadan wurde 1974 im Gebiet Luhansk in der Ostukraine geboren und studierte Literaturwissenschaft, Ukrainistik und Germanistik in Charkiw. In seinem Werk beleuchtet er seit vielen Jahren die Situation in seiner Heimatregion. In Warum ich nicht im Netz bin – Gedichte und Prosa aus dem Krieg beschrieb er die Eindrücke bei seinen Reisen in die Ostukraine ab Sommer 2014 und stellt, wie in Internat, die Menschen in lyrischen Momentaufnahmen in den Vordergrund. Mit Die Erfindung des Jazz im Donbass gelang ihm ein stimmungsvoller Roman über die Grenzenlosigkeit in der Ostukraine

Die Orientierungslosigkeit, die der Krieg mit sich bringt, wird in Internat vom ersten Moment an deutlich. Plätze, die Pascha gestern noch kannte, sind entstellt. Er versteht nicht, was um ihn herum passiert, wer die Akteure sind, die auf einmal die Macht übernehmen und wie er sich ihnen gegenüber verhalten soll. Die Leser tappen mit ihm im Dunkeln. Dem schweigsamen und unsicheren Pascha war die politische Situation in seinem Land lange gleichgültig. Er hat sich an seinen Alltag geklammert und den Krieg ignoriert. Seine Weggefährten fragen ihn entsetzt, warum er gerade diese Zeit des Machtwechsels in der Stadt für sein Vorhaben gewählt habe. Sie erkundigen sich verblüfft, ob er denn nicht die Nachrichten verfolge.

Die Beschreibungen der Kulisse sind so bedrückend echt, dass sie wie ein Film vor dem geistigen Auge abzulaufen beginnen. Die Schwere schnürt dem Leser die Kehle zu. Der Sprachkünstler Zhadan spielt mit Metaphern und Vergleichen – Gerüche werden riechbar, die Feuchte und Kälte, die die Reise so beschwerlich machen, werden fühlbar. Pascha ist ein Außenseiter, wohnt am Rande der Stadt hinter der Frontlinie, zwischen den Welten und zwischen den Sprachen. Der Grenzgänger Pascha wechselt zwischen den Sprachen, zögert bei jedem neuen Gesprächspartner. Als Ukrainischlehrer in einer russischsprachigen Stadt ist diese Unsicherheit bezüglich der Sprachverwendung Alltag – dennoch ist er von den Sprachwechseln bei den verschiedenen Soldaten- und Menschengruppen überfordert. Pascha beschreibt und überschreitet im Roman viele willkürlich gezogenen Grenzen. Regionale Grenzen der neuen Machthaber, Sprachgrenzen, Grenzen zwischen der Zeit vor dem Krieg und der Zeit jetzt. Er ist wie ein Fremder in der eigenen Stadt, in der eigenen Geschichte.

Pascha merkt im Verlauf der Ereignisse, dass Gleichgültigkeit und Desinteresse keine Lösung sind, dass es nicht möglich ist, sich dem Krieg zu entziehen. Er wird selbstsicherer. Es gelingt ihm, Menschen, die ihm Angst machen, in die Augen zu schauen, während er zu Beginn stets „den Blick über die Schulter seines Gesprächspartners in die Ferne gerichtet“ hatte.

Der Roman spielt im Januar 2015. Der Erzähler schildert, dass die Soldaten bereits seit dem Frühjahr des vorigen Jahres in der Region unterwegs seien. Bei der eingenommenen Stadt könnte es sich um Debalzewo, eine Eisenbahnerstadt im Osten der Ukraine mit etwa 25.000 Einwohnern handeln. Januar bis Februar 2015 wechselte dort die Macht. Die zahlreichen Motive aus dem Bereich des Schienenverkehrs betonen die Charakteristik dieses Ortes als Bahnknotenpunkt. Die Orte und die genaue Zeit sind im Buch nicht genannt – dies erschafft eine allgemeine Gültigkeit und Zeitlosigkeit der Ereignisse.

Wiederkehrende Motive machen Paschas Gedanken vorhersagbar. Er wird durchschaubar, bedient sich zur Beschreibung einer Situation entweder einem Vergleich aus dem Schienenverkehr, beschreibt Kälte und Feuchte, ärgert sich über die muffigen Gerüche der Umgebung oder vergleicht sie mit seiner Angst vor Hunden in der Kindheit. Immer wieder trifft er auf Frauen, verhält sich ihnen gegenüber unnatürlich und thematisiert, dass ihm das Halten von Beziehungen schwerfällt. Außerdem spielen Kinder in diesem Roman eine besondere Rolle. Sie gehen intuitiver und weiser mit den unvorhersehbaren Gefahrensituationen um. Mit ihnen wächst in der Ostukraine eine erste Kriegsgeneration im Europa des 21. Jahrhunderts auf.

Das Buch enthält keine offen artikulierte Ideologie. Zhadan nennt die Flaggen als bewusst markierte Leerstelle, Ortsnamen nennt er keine. Einer Leserin ohne Vorkenntnisse über die Region und den Krieg in der Ukraine erschließen sich viele Bezüge nicht. Ausführliches Hintergrundwissen ist gefragt. So ist zum Beispiel von höflichen Soldaten die Rede, die in die Stadt einmarschierten und Schritt für Schritt die Macht übernahmen. Dies ist ein Verweis auf die sogenannten Grünen Männchen, auch Höfliche Männchen, also die Angehörigen russischer Streitkräfte, die ohne Hoheitszeichen auf der Krim und später im Osten der Ukraine auftauchten. Ein weiterer Hinweis auf die Grünen Männchen ist der kaukasische Akzent, den der Erzähler im Zusammenhang mit den Soldaten nennt. Viele der Soldaten kommen aus dem Bataillon Wostok aus Tschetschenien. Der Autor bezeichnet die belagernden Soldaten nicht als Russen, sondern stets als die neuen Machthaber. Die Russen, mit denen Pascha spricht, verweisen auf die ukrainischen Streitkräfte mit den Worten Eure Leute oder Ihre. Auch sie nennen die Ländernamen nicht. Der Ausdruck Eure Leute ist eine Anspielung an den russischen Ausdruck die Unsrigen, auf Russisch Naschi. Naschi ist unter anderem der Name einer regierungstreuen politischen Jugendorganisation und der Slogan Krim nasch stand in den Sozialen Netzwerken für die Angliederung der Krim an Russland 2014. Die verwendeten Ausdrücke deuten verschiedene Positionen und Perspektiven an, lassen jedoch Interpretationsspielräume frei. Serhij Zhadan betont das Menschliche, zieht keine klaren Grenzen.
Internat von Serhij Zhadan erinnert an den oft vergessenen Krieg in der Ostukraine. Der Leser stellt sich vor, es sei Krieg … und er sei mittendrin. Das hinterlässt Beklommenheit.

 

Autorin: Johanna Verhoeven


1 aus The People, Yes von Carl Sandburg, übersetzt mit „Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin” und häufig fälschlicherweise Bertolt Brecht zugeschrieben.