Ther, Philipp. Die Außenseiter – Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017. Gebunden, 436 Seiten. 26 Euro.
ISBN 978-3-518-42776-7
Eine Millionen Flüchtlinge seit 2015 in Deutschland. Rettungsboote der Hilfsorganisationen fahren wochenlang auf dem Mittelmeer umher – erfolglos auf der Suche nach einem Aufnahmehafen. Die Gesellschaft ist gespalten. Rechtspopulistische Parteien sind auf dem Vormarsch. Ist Abschottung eine Lösung? Der Osteuropa-Historiker Philipp Ther verneint. In seinem neuen Buch Die Außenseiter – Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa bietet der Wiener Universitätsprofessor einen historischen Überblick über die Geschichte von Flucht, Migration und Integration in Europa, der die aktuelle Flüchtlingskrise relativiert und unbedeutend wirken lässt.
Philipp Ther vertritt in Die Außenseiter die Meinung, dass Flüchtlinge immer eine Bereicherung für ihr Aufnahmeland seien. Außerdem stellt er die These auf, dass sich Integration als ein besseres Mittel zur Lösung der vermeintlichen oder tatsächlichen Flüchtlingskrisen erwiesen hat als der Versuch, Mauern und Zäune zu bauchen. Er beschreibt weiter, dass die Voraussetzungen für raumübergreifende Flucht heute besser sind, während sich die Voraussetzungen für Integration verschlechtert haben.
Die Unterteilung des Titels in die Begriffe „Flucht, Flüchtlinge und Integration“ lässt eine Chronologie und Dreiteilung des Stoffes vermuten. Der Chronologie wird das Buch gerecht; jedes Kapitel gibt einen historisch-chronologischen Überblick über die Fluchtgeschichte. Die Aspekte Flucht und Flüchtlinge finden viel Beachtung. Der Aspekt der Integration kommt allerdings zu kurz. Im Gegensatz zu vielen anderen Überblicksdarstellungen über Migration, die sich auf Fluchtursachen, Not und Elend fokussieren, möchte Philipp Ther sich auf das Danach – die Zeit nach der Migration, das Integrieren, das Ankommen konzentrieren. Trotz dieser Fokussierung unterscheidet Ther zunächst drei Fluchtursachen: Religiöse Konflikte, Nationalismus und politische Entwicklungen und Ideologien. Der Historiker geht nicht auf die Forschung zu Integration und Assimilation ein und liefert keine neuen Ansätze zur Integrationsdebatte heute. Er wird dem Versprechen, das er in der Einleitung macht, leider schon in der Struktur der Studie nicht gerecht, auch wenn er am Ende des Buches noch historische Integrationsverläufe in der deutschen Geschichte beschreibt. Diese Integrationsbeispiele sind aufgrund unterschiedlicher Ausgangslagen schwer mit der Gegenwart gleichzusetzen. Bei dem von Ther auch in Interviews oft aufgeführten Lieblingsbeispiel der Flucht der Hugenotten nach Deutschland handelte es sich um Adelige, Handwerker und Kaufleute, die viel Know-How mitbrachten. Die Hugenotten wurden in der nach dem 30-jährigen Krieg ausgebluteten Region demographisch und wirtschaftlich als Chance angesehen. Darüber hinaus lebten sie in deutschen Städten danach in Parallelgesellschaften und assimilierten sich erst nach vielen Generationen.
In der Einleitung fällt auf, dass Philipp Ther zur Benennung der Migranten1 durchgehend den Begriff Flüchtling verwendet. Flüchtlinge sind laut Genfer Flüchtlingskonvention
„Personen, die aus begründeter Furcht vor der Verfolgung ihrer Person wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe Schutz in einem anderen Land suchen.“
Um den Begriff gibt es jedoch durch die teils als kleinmachend oder abwertend empfundene Endung -ling eine Diskussion – er wird daher mit Vorsicht verwendet. Auch wenn der Autor sich hier meist auf die Menschengruppe bezieht, die laut Definition der Genfer Flüchtlingskonvention als Flüchtlinge bezeichnet werden, halte ich eine kurze Notiz auf die laufende Diskussion über diese umstrittene Bezeichnung für notwendig. Da dieses Buch die These von Migration als Normalzustand geht, scheint mir eine neutrale und abgegrenzte Begriffsverwendung sinnvoll.
Die Einleitung wirkt rastlos und es fehlt an Orientierung. Der Autor wechselt schnell zwischen Vor- und Rückblenden und es wird der Eindruck erweckt, er wolle mehr sagen, als er auf den Buchseiten Platz gefunden hat. Die Leser[1] verlieren den roten Faden in dieser maximalen Informationsdichte – das Dranbleiben fällt schwer. An anderer Stelle möchte der Autor den Leserinnen durch Kommentare in Klammern entgegenkommen, in denen er sie auf das nächste Kapitel verweist, falls sie die gerade beschriebene Diskussion nicht interessiert. Jeder Leser ist sich über diese Möglichkeit bewusst. Dies müsste nicht erneut artikuliert werden.
Nachdem die Leserin in das Buch hereinstolpert, wird in den drei historisch orientierten Teilen ein Überblick über fast 600 Jahre Migrations- und Fluchtgeschichte gegeben. Hier ist Ther in seinem Element. Er schreibt packend und verständlich, geographische Zusammenhänge werden durch Schaubilder illustriert. Im Kapitel über religiöse Konflikte und Glauben als Fluchtursache beschreibt er die Flucht der Hugenotten, die Reconquista Südosteuropas und die Flucht vor Pogromen. Im zweiten Teil über Flucht vor Nationalismus erläutert er auf etwa 100 Seiten die Präzedenzfälle des „Langen“ 19. Jahrhunderts, Fluchtbewegungen im Zusammenhang mit den Weltkriegen, die Geschichte Israels als Flüchtlingsstaat, die „verweigerte“ Integration der Palästinenser und die jugoslawischen Kriege sowie den Fall des Kosovo. Dass diesem Thema so viel Platz eingeräumt wird, hängt mit Thers Forschungsschwerpunkt Vergleichende Nationalismusstudien zusammen. Im dritten und ausführlichsten Teil über politische und ideologische Flüchtlinge schildert Philipp Ther unter anderem die Geschichte der Grande Emigration von 1831, die Flucht vor dem russischen Bürgerkrieg, die Ungarnkrise, Flucht aus der DDR, aber auch die Geschichte der vietnamesischen „Boatpeople“ und die Situation des vereinigten Deutschlands „zwischen Abschottung und Humanitarismus“. Die Zeit nach 1989 bezeichnet er als „postideologisches Zeitalter“, da eine Einteilung in Fluchtursachen für diese Zeit nicht mehr möglich ist. Er nimmt an dieser Stelle eine Typologie der Flucht vor, die durch individuelle Lebenswege untermauert wird. Dadurch rückt er die Menschen selbst in den Vordergrund und weist damit auf die wichtige Kernaussage hin, dass man bei allen Kategorisierungen und Definitionen die Menschen dahinter nicht aus dem Blick verlieren sollte.
Philipp Ther beschreibt in seinem Buch Europa als Kontinent der Flucht. Der Autor vertritt hierbei einen sehr weiten Europabegriff. Sein Europa reicht weit in den Süden, weit in den Osten. Das gibt dem Buch Tiefe und Breite und dem Autor die Möglichkeit, das große Bild des Kontinents der Geflüchteten und Flüchtenden zu zeichnen. Der Autor arbeitet auf mehreren Ebenen. Er schildert die geschichtlichen Fakten, schafft Zusammenhänge, schildert die aktuellen Diskussionen und ergänzt dieses Bild durch Biografien, die durch Illustrationen markiert werden. Die Studie macht den Sachverhalt durch individuelle Flucht- und Migrationsgeschichten, die vom Autor als analytische Porträts eingefügt wurden, greifbar.
Ein großes Anliegen des Autors ist, dass sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen sollen. Auch wenn einige Zusammenhänge nicht sauber hergestellt werden, gelingt ihm diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart. Er möchte in Erinnerung rufen, was eigentlich klar ist, aber dennoch immer wieder vergessen wird. Was Philipp Ther in diesem Sachbuch schildert, sollte eigentlich nicht geschrieben werden müssen. Dennoch sind es Sätze wie „Ausgrenzung nach außen brachte schon immer Ausgrenzung im Inneren mit sich“, die mit Blick auf die heutige Diskussion bewusstmachen, dass sich die Fehler wiederholen. Wir sehen es gerade dieser Tage an der Reaktion von Menschen aus Einwandererfamilien auf die Diskussion um die Meinungen Horst Seehofers zur Flüchtlingspolitik. Es scheint also wichtig, dass Philipp Ther dieses Wissen mit diesem Buch auffrischt. Es gibt kein Europa ohne die Historie der Flucht, es gibt keine einfache Wahrheit – es gibt nur die komplexe Wahrheit. An diese komplizierte Wahrheit traut sich Philipp Ther. Die Worte der Journalistin Ferda Ataman beim 10. Integrationsgipfel im Bundeskanzleramt Mitte Juni 2018 beschreiben die Grundaussage von Die Außenseiter – Flucht, Flüchtlinge und Integration im modernen Europa sehr gut: „Migration ist kein Ausnahmezustand, sondern ein Normalzustand.“
Autorin: Johanna Verhoeven
[1] Die weibliche und männliche Form werden in dieser Rezension abwechselnd verwendet.