Impressionen der Leipziger Buchmesse 2019
Was gab es bei der Buchmesse zu sehen?
An einem der ersten warmen sonnigen Tage des Jahres sind wir zu siebt im Rahmen unseres Projekts nach Leipzig gefahren und konnten uns eines vielfältigen Angebots osteuropäischer Literatur erfreuen. Durch Länderstände waren zahlreiche Staaten des west-, ost- und südslavischen Raums vertreten.
Auch Studierende der Osteuropastudien wurden bei der Buchmesse nicht enttäuscht – der Kaukasus mit Armenien und Georgien war auch dabei!
Die abwechslungsreich gestalteten Stände mit ihrer Detailverliebtheit stachen uns sofort ins Auge: so gab es meistens ein Regal mit Literatur aus dem Inland und eins mit Übersetzungen, jeweils aus einer der Quellsprachen in die Zielsprache Deutsch, Englisch und Weitere. Am serbischen Stand konnten wir beispielweise ein Buch von Borislav Pekić finden, das ins Armenische übersetzt worden ist. Auch am georgischen Stand waren interessante Übersetzungen zu finden: ein ins Chinesische übersetzte Buch! Wir waren überrascht, wie groß die interkulturelle literarische Vernetzung in Wahrheit war.
BesucherInnen der Buchmesse haben nicht nur die Möglichkeit, sich die neueste Literatur des Herkunftslandes anzuschauen. Sie können ebenso die Verbreitung der Literatur durch die Übersetzungen verfolgen. Geschichten kennen hier keine Grenzen. Verlagsleute können hingegen bei Interesse den einen oder anderen Titel für die deutschsprachige Übersetzung empfehlen.
Schließlich ist der wichtigste Punkt eines jeden Messebesuchs der persönliche Kontakt und das direkte Gespräch. Am montenegrinischen Stand hatten wir ein nettes Gespräch über transnationale Literatur. Die BetreuerInnen waren eine Professorin und ein wissenschaftlicher Mitarbeiter aus einer Universität in Montenegro. Ein Funken Licht ging in unseren Augen auf, in der Hoffnung, auch einmal einen Stand auf einer Buchmesse betreuen zu dürfen!
Mein Schwerpunkt bei der LBM 2019 waren unter anderem die südslavischen Länderstände. Sie sind nicht nur für Literaturwissenschaftler ein spannender Ort, sondern auch für Interessierte: hier kann man sich über Neuerscheinungen informieren, spannende Gespräche führen und Kontakte knüpfen. Neben Kroatien und Serbien war aus dem südslavischen Bereich auch Montenegro vertreten.
Der serbische Stand präsentierte eine gute Mischung aus klassischer und zeitgenössischer Literatur sowie zahlreiche Übersetzungen. Kroatien legte den Fokus auf Gegenwartsliteratur sowie Kinder- und Jugendliteratur. Hier konnte man sich auch einige Leseproben abholen und einen Einblick in die derzeitigen Neuerscheinungen bekommen.
Stark vertreten war darin Slavenka Drakulić: die kroatische Schriftstellerin setzt sich für die Aufarbeitung des Balkankrieges ein und thematisiert in ihren Texten insbesondere die Perspektive der Frau. So auch in der Leseprobe, welche Auszügen aus ihrem neuen Buch Nevidljiva zena i druge priče (engl. The Invisible Woman) enthält. Auch Miljenko Jergović und Dino Pešut wurden unter anderem mit Leseproben vorgestellt. Der vergangene Krieg ist in der montenegrinischen Literatur ebenfalls ein aktuelles Thema.
Was habt Ihr aus der Leipziger Buchmesse mitgenommen?
Tschechien als Gastland präsentiert bei der Leipziger Buchmesse 2019 hochkarätige Literatur, bekommt aber nicht den Preis.
Die Leipziger Buchmesse ist für ihre Ausrichtung auf fremdsprachige Literaturen bekannt. Tausende Besucher füllen im März vier Tage lang die Halle 4 auf dem Messegelände. Das Programm der Messe krönt der Auftritt des Gastlandes: mit Tschechien nach Litauen und Rumänien zum dritten Mal ein osteuropäischer Gast.
Besonders herausragend ist der Roman von Jaroslav Rudiš Winterbergs letzte Reise, der für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie „Belletristik“ nominiert wurde. Es ist bemerkenswert, dass ein tschechischer Autor auf Deutsch schreibt! Aber dann, direkt am ersten Tag, die große Enttäuschung für diejenigen, für die der Roman der Favorit war: den Preis bekommt Rudiš nicht. Tiefes Seufzen von uns, nach der Verkündung des diesjährigen Preisträgers.
Der zeitgenössische Reiseführer durch Österreich-Ungarn hat die Jury nicht beeindruckt, der Preis geht nach Berlin. Anke Stellings Roman „Schäfchen im Trockenen“ „will wehtun und muss wehtun“, so die Begründung der Jury. Prenzlauer Berg soll nach Auffassung der Jury näher sein, als ein untergegangenes Reich. Tschechien, Gastland der diesjährigen Buchmesse, ist sicherlich enttäuscht.
Das Programm im kleinen, stets überfüllten Openspace (was für eine Metapher! So offen und zugänglich ist heute Literatur und trotzdem muss jeder um seinen Platz kämpfen) im Herzen der Halle konnte jeden Messebesucher überfordern. Lesungen im Halbstunden-Takt, Gespräche miteinflussreichen Akteuren der Kulturszene Tschechiens, Workshops, große Namen der tschechischen Literatur – alles auf einmal, alles unter einem Dach. Und überall wurde die Entscheidung der Jury kommentiert!
Am Sonntag, kurz vor der Schließung der Messe, verkündete Rudiš stolz auf seiner Facebook-Seite, dass das letzte extra gelieferte Exemplar seines Romans in der Messebuchhandlung verkauft wurde. Der Roman war in der Messebuchhandlung ausverkauft, in anderen Buchhandlungen sah es ähnlich aus. Winterbergs letzte Reise ist bei den Lesern und Leserinnen anscheinend gut angekommen. Das war auch drei Tage früher der Fall: schon paar Stunden vor der Preisverleihung gab es Winterbergs letzte Reise nicht mehr zu kaufen, und die BuchhändlerInnen baten, entweder später (lieber morgens und ganz früh!) zu kommen oder sein Exemplar irgendwo in der Stadt zu besorgen, da mangelt es schließlich nicht an Buchhandlungen – Leipzig liest!. Für die modernsten Leser stand der Roman auch als E-Buch zur Verfügung: österreich-ungarisches Zeitalter überschneidet sich problemlos mit dem Digitalen.
Der Gewinner war allerdings leicht zu bekommen. Für die Untermiete und den damit verbundenen Schwierigkeiten, davon handelt der Roman von Anke Stelling, interessierten sich wahrscheinlich aber nur wenige. Die LeserInnen haben mit ihrem Geld dieses Jahr trotzdem für große, zeitübergreifende Geschichte abgestimmt. Für große Literatur.
Für wen wird geschrieben, übersetzt und veröffentlicht?
Einen Einblick in das russische Justizwesen.
Wladimir Perewersin stellt sein neu erschienenes Buch Matrosenruhe – Meine Jahre in Putins Gefängnissen auf der Leipziger Buchmesse 2019 vor und bezeichnet es als „sein Baby“. Aufgeregt erzählt der Autor davon, wie sich sein Leben schlagartig veränderte und er in den Strudel des Prozesses gegen Michail Chodorkowski, einen russischen Oppositionellen, geriet. Der Autor konnte lange nicht nachvollziehen, wofür er angeklagt wurde, da keine richtigen Beweise vorgelegt wurden.
„An meiner Stelle hätte jeder sein können, aber das Glück traf mich.“ – Perewersin arbeitete für Chodorkowksis Ölkonzern Jukos und sollte diesen im Prozess mit Falschaussagen belasten. Doch der Autor weigerte sich, widerstand dem Druck und wurde schließlich zu einer Haftstrafe verurteilt.
Perewersin versicherte dem Publikum auf Nachfrage nach der deutschen Übersetzung, dass seine Geschichte richtig übersetzt wurde und die Verhältnisse im Untersuchungsgefängnis „Matrosenruhe“ tatsächlich so schlecht seien. „Jede Kolonie hat ihre eigenen Gesetzte, doch eines haben alle russischen Kolonien gemeinsam: jede Minute werden deine Menschenrechte durch Erniedrigung und Misshandlungen verletzt!“ Der Autor erzählt im Interview von Vorfällen, die man nur schwer glauben kann. Die Insider-Informationen sind schockierend und geben einen authentischen Einblick in den Alltag eines russischen Häftlings. Das Buch ist mehr als nur eine Reflexion der sieben Jahre Gefängnis – es ist ein Erfahrungsbericht über das russische Justizwesen.
Ein erneut veröffentlichtes Buch, bereit zur erneuten Interpretation.
Dank der Übersetzerin Olga Radetzkaja und dem kleinen und charmanten Guggolz Verlag aus Berlin, die ich im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2019 kennegelernt habe, darf sich die deutschsprachige Leserschaft an dem nach wie vor am thematisch aktuellen Roman Apoll Besobrasow von Boris Poplawski erfreuen.
Sebastian Guggolz und sein Team haben das Ziel, den deutschen Buchmarkt für uns Leserinnen und Leser breiter und facettenreicher zu gestalten, sowie unbekanntere Regionen auf der literarischen Landkarte sichtbar zu machen und ältere Literatur wieder auf den Markt zu bringen.
So regen sie an, die Bücher aufs Neue zu lesen und zu besprechen. Der russische Schriftsteller Boris Poplawski ist ein wunderbares Beispiel für solch eine literarische Wiedergeburt.
Seine Geschichte spielt in Paris Anfang des 20. Jahrhunderts und erzählt von jungen Menschen, die aus ihrem Land fliehen mussten, um dem wahrscheinlichen Tod zu entgehen. Ob es Parallelen zur heutigen Gesellschaft gibt? Sicherlich jede Menge, und ich bin schon gespannt darauf, sie bei der Lektüre zu entdecken!
Warum Kinderliteratur aus dem Osten nicht bei uns ankommt.
Sockenfresser und Piroggenpiraten – so heißt das Podiumsgespräch (nach dem gleichnamigen Kinderbuch des lettischen Autors Māris Putniņš), zu dem sich bei der Leipziger Buchmesse 2019 Experten versammelt haben, die sich mit Kinder- und Jugendliteratur aus Mittel- und Osteuropa beschäftigen und sich für deren Verbreitung einsetzen.
Der kleine Maulwurf aus Tschechien hatte zu seiner Zeit den Durchbruch geschafft. Doch was ist mit den Büchern von heute? Darunter gäbe es wahre Schätze, die uns im Westen einfach nicht erreichen, so die Beteiligten. Warum ist das so? Warum werden diese guten Bücher in Deutschland so selten herausgegeben? Die Umsetzung ist nicht so leicht wie gedacht. Experten berichten von den Schwierigkeiten, osteuropäische Kinderbücher deutschen Verlagen „schmackhaft zu machen“.
Die Illustrationen und Texte werden hierzulande des Öfteren als sehr ungewöhnlich empfunden – und dadurch untauglich für den westeuropäischen Markt. Dieser wird aktuell von den Trends englischsprachiger Literatur dominiert.
Alle Beteiligten der Podiumsdiskussion im Übersetzerzentrum waren sich dagegen einig – genau das Ungewöhnliche und Andersartige würde unseren Büchermarkt bereichern! Alle sprachen sich mit Nachdruck für mehr Kinderliteratur aus Europas Osten aus.
Moderation: Thomas Weiler
Mitwirkende: Katharina Hinderer, Maria Sileny, Katja Wiebe
Redaktion: Franziska Günther