In diesem Text beschreibt Elena Weyer ihre eigenen Erfahrungen mit Migration und Transnationalität in Anlehnung an Emilia Smechowskis Buch „Wir Strebermigranten“ (Hanser Berlin, 2017). Die verwendeten Zitate sind aus eben diesem entnommen.
Redaktion GEGW
„Ihr habt mir das nie richtig beigebracht!“,
lautet auch heute noch ab und zu der Vorwurf an meine Eltern, wenn ich im Polnischen anstatt upośledzony – pośledzony (dt.: behindert) sage, oder einen falschen Genitiv bei der Verneinung bilde und sehe, wie sich ihr Gesicht zu einem Schmunzeln verformt. Ein Vorwurf, den ich ihnen sehr oft mache. Besser gesagt jedes Mal, wenn mir im Polnischen wieder etwas nicht gelingt oder ich höre, dass andere Kinder, welche als Zweitsprache Polnisch gelernt haben, auch früher an den Wochenenden in der Polnischen Schule waren oder zur Kolonia (Ausflug mit der polnischen Kirche) gefahren sind. Dinge, die ich nie gemacht habe. Meine Eltern sind im Jahre 1980 nach Deutschland, genauer Hamburg, gekommen. Mein Bruder, Jahrgang 1981 und ich, Jahrgang 1997, sind im Gegensatz zu Emilia in Deutschland geboren. Und trotz der Zweisprachigkeit meiner Eltern haben sie sich dagegen entschieden, uns von klein auf Polnisch beizubringen.
Während der Grundschulzeit bin ich, jedes Jahr aufs Neue, mit ihnen nach Polen gefahren. Mindestens vier Mal im Jahr, jede Ferien, in Jogginghose. „Eine zwölf Stunden Fahrt mit dem Auto in Jogginghose ist bequemer oder willst du etwa in deine Jeans gequetscht rumsitzen?“, pflegte meine Mutter immer zu sagen. Ab und an gab es auf der Hinfahrt die Diskussion, ob wir nicht zu McDonald‘s gehen könnten – eine wirkliche Ausnahme bei meinen Eltern – und am Ende wurde es dann meist ein Happy Meal mit Orangensaft, keine Cola. Den Großteil der Fahrt verbrachte ich schlafend. Wach wurde ich nur, wenn das Geruckel losging, denn dies bedeutete, wir hatten die deutsch-polnische Grenze passiert und befanden uns auf polnischem Boden. Der Rekord meines Vaters für die Fahrt von Hamburg nach Danzig liegt bei sechs Stunden. Stolz wird in der Familie darüber berichtet, sobald wir ankommen. Was ebenfalls nicht fehlen darf, ist die PS-Zahl seines neuen Mercedes.
Ich habe mir nie die Frage gestellt, wieso meine Eltern mir die polnische Sprache nicht beibringen wollten. Erst mit dem Beginn des Slavistikstudiums beschäftigte ich mich immer mehr damit, wie es überhaupt dazu kam, dass ich Polnisch lernte. Meine Eltern meinen, sie bemerkten, als ich fünf/sechs Jahre alt war, ein enormes Interesse an der Sprache meinerseits. Ich wollte unbedingt mit meinen Cousinen reden, habe immer wieder nachgefragt, was dieses oder jenes heißt oder habe mit den undeklinierten Worten versucht, Sätze zu bauen, um mich zu verständigen. Ich fing erst in der Universität an das polnische Alphabet zu lernen und korrekt auf Polnisch zu schreiben. Davor ersetzte ich Buchstabenverbindungen wie „sz“, „cz“ und „dz“ einfach durch „sch“, „tsch“ und „dsch“. So verlief auch die Kommunikation mit meinen Cousinen über Facebook. Zum Glück hatten sie Deutsch in der Schule, sonst hätten sie mich womöglich gar nicht verstanden.
Meine Eltern hatten bis zu meinem sechsten Lebensjahr so gut wie gar keinen Kontakt zu in Deutschland lebenden Polen. Man fragte andere nicht nach ihrer Nationalität, es war meist ersichtlich oder „erhörbar“. „Damals schämte man sich einfach als Pole“, sagt mein Vater. „Wir kamen doch aus einem unterentwickelten Land, wir hatten das Gefühl, etwas aufholen zu müssen.“ Ich wurde mit der Tochter der besten Freundin meiner Mutter eingeschult, und obwohl beide Mütter ganz klar wussten, dass sie Polinnen waren, sprachen sie weiterhin Deutsch miteinander. Es dauerte über ein Jahr, bis Sylwia meine Mutter ganz unauffällig fragte: „Und woher kommt ihr eigentlich?“ „Ursprünglich aus Danzig.“, flüsterte meine Mutter. „Oh, no to możemy rozmawiać po polsku!“. (dt.: Oh, dann können wir ja auf Polnisch reden!) Meine Mutter erzählte, wie erleichtert sie darüber war, dass sie endlich jemanden gefunden hatte, mit dem sie über ihre Vergangenheit reden konnte und den „das gleiche Leid plagte“. Die Herkunft war geklärt und doch reden sie bis heute fast nur Deutsch miteinander, einfach um nicht aufzufallen.
Sylwia gehörte zu den „Deutschpolen“, welchen man die polnische Herkunft nicht anmerken konnte. Sie vermied es, polnisch zu sprechen, auch heute antwortet sie ausschließlich auf Deutsch, wenn meine Mutter sie etwas auf Polnisch fragt. Ihre Kinder sprachen und sprechen kein Wort polnisch, aber darauf legt sie auch keinen Wert. Sie arbeitet als Sekretärin in einer Grundschule. Dokumente unterschreibt sie nicht mehr mit Sylwia, sondern Silvia und ihre Kollegen kennen sie unter „Silvi“, ein für Polen unvorstellbarer Spitzname.
„Nein, wir wollten nicht erkannt werden. Wenn wir andere Polen im Supermarkt hörten, rollten wir mit den Augen.“ (96)
Meine Mutter und ich laufen heute immer noch durch die Straßen und „geben uns nicht zu erkennen“. Wir schmunzeln, sobald wir Fetzen der polnischen Sprache hören oder machen einander durch einen Händedruck darauf aufmerksam, als würden wir uns sagen wollen: Uns kann man nicht so leicht als Polen identifizieren. Wenn ich dann mal irgendwo anfange Polnisch zu reden, gibt es einen bösen Blick, um mich darauf hinzuweisen, dass ich die Sprache gewechselt habe oder es heißt „Das muss jetzt nicht sein.“ In Polen ist es genau umgekehrt. Wenn ich beispielsweise in einem Laden anfange Deutsch zu sprechen, befürchten meine Eltern, man nehme uns dann anders wahr und versuchen mir unauffällig zu vermitteln, ich solle wieder ins Polnische wechseln. Meine Mutter meint, die Polen manchmal sogar anhand ihrer Gesten, ihres Schritts oder ihres Gesichts erkennen zu können. Woran man eine polnische Frau aber oftmals ausmachen könne, seien die kurzen, meist dunkel oder rot/ bordeaux gefärbten Haare mit hellen Strähnchen. Mein Freund behauptet, die polnischen Männer anhand ihres breiten Kreuzes, der glänzenden Glatze und des rotbraunen Hauttons zu erkennen. Ich muss sagen, dass ich diese Theorie nicht ganz bestätigen kann.
„Meine Mutter hatte angefangen die Zeitschrift zu kaufen und Rezepte herauszureißen.“ (81)
Meine Mutter hat ein Rezeptbuch. Immer wenn sie es rausholt, fallen hunderte von Schnipseln heraus, von Rezepten, die „ich irgendwann mal ausprobieren will“. Im Endeffekt greift sie meist auf die gleichen Rezepte zurück. Pierogi habe ich sie noch nie machen sehen. Sie ist der Meinung, dass es einfach zu viel „Fummelkram“ ist und jeder eine andere Sorte Pierogi mag, weshalb man es keinem recht machen könne. Dafür aber kocht meine Mutter sonst alles, was das polnische Herz begehrt: Rosół (Hühnersuppe), Kopytka (Klößchen), Bigos (Krauteintopf mit Fleischstückchen), Gołąbki (Kohlroulladen). Was das Essen angeht, war ich ein sehr schwieriges Kind. Ich neigte dazu, im Essen rumzustochern und Dinge auszusortieren, welche mir optisch nicht zusagten. Mit polnischem Essen tue ich mich bis heute noch schwer. Żurek (Sauermehlsuppe mit Wurst), Grochówka (Erbsensuppe), Kaszanka (Blutwurst) oder Flaczki (Kuttelsuppe) sind Gerichte, mit denen man mich jagen kann. Milchsuppe oder Mehlsuppe hingegen liebe ich. Immer, wenn Freundinnen zum Übernachten kamen und es zum Abendessen Nudeln gab, habe ich meine Mutter gefragt, ob wir am nächsten Morgen nicht aus den restlichen Nudeln Milchsuppe machen könnten. Ich war sichtlich verblüfft, als meine Freundin mich angewidert anschaute, ganz nach dem Motto: „Was ist das denn für ein Zeug?“ Ich dachte, jedes Kind kennt Milchsuppe und isst diese auch regelmäßig bei sich zu Hause.
„Polnische Läden sahen aus, wie Läden heute aussehen, bevor sie dicht machen. Man sieht viel vom Regal und wenig Ware.“ (18)
Mittlerweile gibt es, meiner Meinung nach, in Polen Supermärkte mit einer besseren Auswahl an Lebensmitteln als wir sie hier in Deutschland haben. Ich liebe den polnischen Lidl, wobei einige bestimmt keinen Unterschied zu dem Lidl in Deutschland sehen, außer dass es polnische Spezialitäten gibt. Es gibt eine viel größere Auswahl an Gewürzen, frischem Gebäck, Teesorten, veganen Spezialitäten und kleinen Snacks. Meine Mutter schaute mich diese Sommerferien nur fragend an, als ich mein komplettes „Ferienbudget“ nur für Einkäufe bei Lidl und Biedronka (polnischer Supermarkt) ausgab. Die Läden in den kleineren Dörfern in Polen sind für mich, früher wie heute, eine ganz besondere Attraktion: dieser Geruch von Muff, abgestandenem Gemüse und der Wurstvitrine kombiniert mit einer älteren Dame, welche einen nur nett anlächelt, sobald man den Laden mit den Eltern oder einer ihr bekannten Person betritt, sonst gespannt dem raschelnden Radio lauscht – meist Radio Maryja – und den Wert der ausgewählten Ware in einen alten Taschenrechner hämmert. Meine Eltern schickten mich im Sommer oft mit dem Fahrrad zum Dorfladen, um Eis zu holen. „Drei Mal Calypso (polnische Eismarke), Elena!“ Ich holte meistens nur zwei Päckchen. Dieses Eis gab es nur in drei Sorten – Sahne, Schokolade und Erdbeere. Meine Eltern erinnerte dieses Eis an ihre Kindheit, ich gab dem Eis immer wieder aufs Neue eine Chance, mein Fall ist es bis heute nicht.
„Meine Eltern gingen selten aus, noch immer verschoben sie das Vergnügen auf später und arbeiteten lieber.” (101)
Heutzutage muss ich meine Mutter und meinen Vater ab und an daran erinnern, sich mal hinzusetzten, sich eine Pause zu gönnen, auszugehen und sich nicht immer Gedanken darüber zu machen, was sie als nächstes tun können. Wenn mein Vater nicht auf der Arbeit ist, ist er im Garten oder am Handwerkeln, falls nicht wieder eine kleine Renovierungsarbeit in meiner Wohnung oder im Haus meines Bruders anfällt. Er macht alles selbst. In all den Jahren, in denen ich mit meinen Eltern zusammengelebt habe, habe ich noch nie mitbekommen, dass meine Eltern für irgendeine Arbeit am oder im Haus eine Firma engagiert haben.
Jedes Mal, wenn es darum geht, irgendwo zusammen als Familie Essen zu gehen, fallen immer die drei gleichen Restaurantnamen. Sie probieren nicht gerne Neues aus, vielleicht auch aus Angst vor dem Ungewissen?
Meine Eltern waren diejenigen, die sich bei Elternabenden möglichst unauffällig verhielten, um nichts sagen zu müssen, vor Angst sich falsch zu artikulieren. Heute können wir nur zusammen darüber lachen, wenn meine Mutter anstatt Puderzucker „Zukierpuder“ sagt. Worüber ich nicht wirklich lachen kann, sind die Ermahnungen meiner Mutter. „Wyprostój się!“ (Sitz/ Geh gerade!) oder „Spróbuj chodzić jak dama!“ (Versuch wie eine Dame zu gehen!) sagt sie dann immer.
„Wir wollten so gern Glitzer sein.“ (99)
Ich erinnere mich noch genau an die Weihnachten, an denen meine Cousine zu mir meinte: „Ihr in Deutschland kriegt immer so tolle Sachen zu Weihnachten, nicht so wie wir.“ Erst ab dem Zeitpunkt realisierte ich, dass der Unterschied zwischen beiden Ländern doch größer ist, als erst einmal gedacht und ich erinnerte mich daran, wie meine Mutter immer wieder zu mir sagte „Elena, wir haben es gut, wir müssen hier nicht so extrem auf die Preise gucken.“ Damals war es in Polen auch noch teilweise günstiger als in Deutschland, heutzutage sind die Preise in beiden Ländern größtenteils gleich.
„In Deutschland mussten sie feststellen, dass sie nicht nur von Deutschen umgeben waren, sondern auch von Jugoslawen, Türken, Griechen, Albanern – von all den sichtbaren Ausländern. Dass außerhalb Polens verschiedene Kulturen zusammenlebten, dass dort Nachbarn, Freunde, Kollegen eine andere Religion und Hautfarbe haben konnten, das wussten sie, aber es blieb Theorie – eine, die sie nie gelebt hatten.” (118)
Als ich mit meinen Eltern das letzte Mal in Warschau war, fiel mir plötzlich auf, dass die meisten Kellnerinnen mit einem ungewöhnlichen Akzent sprachen und auch meinen Eltern blieb das nicht unbemerkt. „Wszędzie widać tych Ukraińców!” (dt.: Überall sieht man diese Ukrainer!), lautete der Kommentar meiner Eltern. Einerseits freute sie dies, andererseits fand mein Vater die Vorstellung paradox, eine in einem Restaurant für traditionell polnische Küche arbeitende ukrainische Kellnerin zu fragen, was sie ihm empfehlen könnte. Auch in Hamburg fällt häufig der Kommentar: „Die kommen bestimmt aus der DDR.” Dabei blenden meine Eltern häufig aus, dass sie sich selbst in einem Land aufhalten, welches nicht ihr Geburtsland ist. Man könnte meinen, die heutzutage nach Deutschland Geflüchteten hätten einen triftigeren Grund, nach Deutschland auszuwandern, als meine Eltern ihn damals hatten, weil in ihrem Heimatland Krieg, Verfolgung, Hunger und Krankheit herrschen. Obwohl sie selbst in dieses Land emigriert sind, stehen sie Geflüchteten kritisch gegenüber. Ich weiß nicht, ob dies der unterbewusste Einfluss der polnischen Regierung ist oder sie selbst einfach vergessen haben, wie viel einfacher ihre Integration hätte laufen können, wenn sie ein wenig Hilfe von außen bekommen hätten.
„Und fühlst du dich mehr als Deutsche oder als Polin?” (175)
Eine Frage, die mir meine Eltern, insbesondere meine Mutter, bis heute nicht richtig beantworten können. Ihre Eltern waren teilweise selber deutsch-polnisch, ihr Wohnort war Danzig. Danzig gehörte Zwischenzeitlich zu Deutschland, dann wieder zu Polen. Aber auf die Frage, ob meine Eltern sich irgendwann vorstellen könnten, nach Danzig zurückzukehren, gibt es eine ganz klare Antwort: „Nein. Wozu? Was sollen wir da? Ich bin nicht einmal von dort geflohen um wieder dorthin zurückzukehren! Wozu haben wir uns das alles hier in Deutschland denn aufgebaut?“
Auch wenn sie nicht nach Polen zurückkehren wollen, wird die Wigilia bei uns traditionell polnisch gefeiert. Mir wurde zwar nie beigebracht, dass es das traditionelle Weihnachtsfest war, ich lernte dieses aber dank meines Studiums. Pierogi gab es allerdings auch am wichtigsten polnischen Feiertag nicht. „Wenn du sie machen möchtest, gerne, aber ich habe genug zu tun.“, sagte meine Mutter.
Text: UHH/ Weyer
Redaktion: Franziska Günther