„Das leere Gefäß“

Kaszuba, Magdalena: Das leere Gefäß. Avant Verlag, Berlin 2018, 152 Seiten,
20 Euro, ISBN: 978-3-945034-86-6


 

Go East, Go West, Migrationen zwischen Westen und Osten – welche Arten der Migration kann es noch geben? Magdalena Kaszuba erschafft in ihrer Graphic Novel eine Geschichte der drei Migrationen: Eine Migration zwischen Polen und Deutschland, eine Migration zwischen der Welt des Glaubens und der Welt des Nicht-Glaubens und eine weitere Migration zwischen ihrem früheren und heutigen Ich.

Die Autorin Magdalena Kaszuba wurde 1988 in Polen geboren. Ihre Eltern wanderten 1990 nach Deutschland aus, wodurch sie in Hamburg aufwuchs. Sie studiert Illustration an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg und zeichnete bisher unter anderem Comics für Zeitungen oder Magazine. In Ihrer autobiografischen Graphic Novel, die im Frühjahr 2018 erschien und für die sie 2017 einen Förderpreis der Hans-Meid-Stiftung erhielt, erzählt die Ich-Erzählerin auf 152 Seiten ihren Bruch mit dem Glauben und der katholischen Kirche.

Die Ich-Erzählerin läuft an einem verregneten Novembertag durch Hamburg. Es wird eine finstere Stimmung erschaffen; die Eindrücke des Spazierganges setzen Erinnerungen frei. Es werden Bilder der Landungsbrücken, das Hauptportal und die kupferne Statue des Erzengels Michael über dem Eingang der St. Michaeliskirche und zahlreiche weitere Kirchtürme gezeigt. Die Muscheln an den Souvenirständen der Landungsbrücken erinnern sie an den Urlaub, den sie jedes Jahr mit ihren Eltern bei deren Freunden an der Ostsee in Polen verbrachte. Die Musik aus den Kopfhörern einer Passantin erinnert sie an Orgelmusik, die Erinnerungen an ihre Großmutter erweckt, die streng katholisch in Polen lebt. Sie erinnert sich an die Bibelgeschichten, die ihre Mutter ihr ab ihrem sechsten Lebensjahr vorzulesen pflegte. Die Schilderungen dieser Bibelgeschichten werden durch die Bilder von schwarz gezeichneten brutalen Gestalten, Mord und Totschlag grafisch dargestellt. Sie ist von Angst vor dem Bild eines rachsüchtigen Gottes erfüllt, der alles sieht und alles hört, sodass sie sich dazu entschließt, den Weg mit Gott zu gehen, um so Frieden mit Gott zu schließen. Mit 10 Jahren entschließt sie sich, zur Erstkommunion zu gehen, um ihren weiteren Weg mit Gott einzuschlagen. Es folgt der Höhe- und Wendepunkt der Geschichte. Die Ich-Erzählerin wird am Vorabend der Erstkommunion zu ihrer ersten Beichte eingeladen, sie fühlt sich in dem Gespräch mit dem Priester sehr unwohl, da es keinen Beichtstuhl gibt und sie das Gefühl hat, der Priester wolle Blickkontakt zu ihr herstellen. Sie fühlt sich in die Ecke gedrängt, beichtet dennoch ihre Sünden. Als der Priester mehrmals nachfragt, ob dies wirklich alle Sünden seien, fühlt sich die Ich-Erzählerin sichtbar unwohler. Dies wird durch eine optische Verkleinerung ihrer Person auf den Bildern dargestellt. Der Priester wird immer entstellter dargestellt, verwandelt sich schließlich in ein Raubtier, wie die Erzählerin es bereits bei der Schilderung der Bibelgeschichten dargestellt hat, und schließlich wird der Priester in Form von fünf um sie herumschleichenden schwarzen aggressiven Raubtieren dargestellt. Die Erzählerin beginnt, Sünden zu erfinden und der Priester lässt sie schließlich frei und erteilt ihr die Absolution. Hier geschieht der Bruch mit dem Glauben, da sie sich anschließend schuldig fühlt, bei dem heiligen Sakrament der Beichte gelogen zu haben. Sie wird als schwarz gekleidet in der Reihe der weiß gekleideten Kommunionkinder dargestellt und ihr kommen Zweifel auf. Dies mündet schließlich in einem Hass auf Gott, der sie überströmt. Sie wird als leeres Gefäß dargestellt, das mit dem Hass gegen Gott und gegen den Glauben vollläuft. Sie setzt schließlich zum Befreiungsschlag an und gießt das Gefäß aus. Mit dem Hass fließen auch Glaube, Gott, die Hoffnungen und Wünsche aus ihr heraus. Sie geht befreit und mit neuer „Hülle“ in ihr weiteres Leben. Abschließend blickt die Ich-Erzählerin nachdenklich auf diesen Schritt und beschreibt hier eine weitere Migration, die sie gerne tun würde. Sie zeichnet eine klare Grenze zwischen dem früheren Ich und dem heutigen Ich (gekennzeichnet durch eine Wasseroberfläche), die sie nicht mehr übertreten kann. Sie hofft, diese Grenze zwischen dem früheren Ich, das sie sich selbst überlassen hatte und dem heutigen Ich, „irgendwann vielleicht“ überwinden zu können.

Die Graphic Novel ist durch Aquarelle, Blei- oder Buntstiftzeichnungen in den Farben Schwarz, Gelb und Grau geprägt – ab und zu werden rote Akzente gesetzt. Die Bilder wirken naiv, wie Kinderzeichnungen. Zum Teil sind sie sehr laienhaft und schemenhaft gezeichnet, zum Teil sehr detailliert und exakt. Durch die naiven Zeichnungen und den stetigen Wechsel zwischen Full Page Shots, Splash Pages und Panel Grids mit mehreren Panels auf einer Seite, zieht die Autorin den Leser in die Gedanken- und Gefühlswelt der jungen Ich-Erzählerin hinein und schafft eine geschickt gelenkte Abwechslung von Zeitraffungen und Zeitdehnungen, die es nicht möglich machen, das Buch nach Beginn des Lesens wieder aus den Händen zu legen. Durch den Wechsel von rahmenlosen und gerahmten Bildern wird der Fortgang der Erzählung betont und es wird ein stark schwankender Bild-Rhythmus erschaffen. Die Handlung wird dadurch besonders dramatisiert. Zu Beginn des Lesens fällt auf, dass die Autorin die Textmenge bewusst klein gehalten hat. Durch wenig Text wird den Bildern mehr Bedeutung gegeben und das Konzept geht auf. Es entsteht niemals das Gefühl, dass Handlungsschritte durch zu wenig Erläuterungen nicht verständlich dargestellt wurden. Die Texte sind kindlich, manchmal sogar naiv klingend geschrieben. Das Lettering ist ungewöhnlich. Die Texte werden nicht durch Sprech- oder Denkblasen von den Bildern abgetrennt. Alle Texte werden in die Bilder integriert – gleich, ob es sich um wörtliche Rede, Hintergrundinformationen oder Handlungsbeschreibungen handelt. Durch den Kontext ist dennoch in jedem Moment klar, wer spricht, oder von welcher Handlung die Rede ist. Diese schlichte Erzählweise und das schlichte Lettering machen das Erlebnis der Graphic Novel noch intensiver.

Bei der Darstellung der Bilder wurde nichts dem Zufall überlassen. Der bevorstehende Ausbruch wird beispielsweise auf S. 49 als Graffiti im Hintergrund mit den Worten „eskape“ für escape, die Flucht, angedeutet. Der Moment des Zweifels nach der Erstkommunion wird beispielsweise sehr intensiv dargestellt. Auf die Darstellung von ihr als schwarz eingehülltes Kommunionkind folgt eine Splash Page mit schwarzen Vögeln vor einem Hintergrund mit gelben Wolken, der wie eine Art bewusst markierte Leerstelle, oder auch ein Gedankenblitz bzw. ein Moment der Ruhe und Verzögerung wirkt. Ab diesem Punkt beginnen die Zweifel in ihr zu wachsen. Das Tempo dieser Zweifel wird auf der Folgeseite durch die enge Taktung der Panels mit beispielsweise auf S. 119 drei breiten Panels mit Fragen untereinander dargestellt. Der Ausbruch dieser Zweifel wird auf den nachfolgenden Seiten als reißender gelber Fluss und wie wild brausender schwarzer Orkan abgebildet.

Magdalena Kaszuba gelingt mit dieser Graphic Novel ein beeindruckendes, autobiografisches Debüt und eine intensive und atmosphärische Darstellung ihrer Geschichte vom Prozess der Abkehr von Glauben und Gott mit der sie die Möglichkeiten der Graphic Novel auf beeindruckende Weise nutzt. Sie stellt ihren Bruch mit Gott nicht belehrend, sondern als ein Ergebnis der Selbstreflexion dar. Sie sucht die Schuld nicht bei den anderen, sondern bei sich. Sie stellt sich stetig als leeres Gefäß dar, wodurch sie sich selbst passiviert. Diese passive Handlungsweise durchbricht sie erst mit der ersten aktiven Handlung, dem Ausleeren des Gefäßes und damit der Abkehr vom Glauben.

 

Autorin: Johanna Verhoeven