Internat

Serhij Zhadan. Internat. Aus dem Ukrainischen von Juri Durkot und Sabine Stöhr. Berlin: Suhrkamp, 2018. 300 Seiten, 22 Euro. ISBN 978-3-518-42805-4

 


Am Anfang stand Homer, und er sprach vom Krieg.


 

Kriegsromane als Gattung werden sich nie erschöpfen, weil das Material dafür das Leben selbst liefert. Die Mehrheit der Menschen ist gegen Kriege, und dennoch werden sie weitergeführt. Manche geraten in Vergessenheit, andere bleiben in Erinnerung, und heldenhafte Sagen werden von Generation zu Generation überliefert. Auch wenn man sie am liebsten vergessen möchte.

Kriege der modernen Zeit, die wir möglicherweise miterlebt haben oder von denen wir trockene Berichte in der „Tagesschau“ sehen, sind künstlerisch unterschiedlich verarbeitet worden. Der Balkankrieg wurde in Romanen und Filmen als eine bittere Mahnung an die nächste Generation weitergegeben. Die Erinnerungen an den Bürgerkrieg in Tajikistan, dem zwischen 1992 und 1995 Tausende von Menschen zu Opfer fielen, sind dagegen tabu, darüber wird nicht öffentlich gesprochen.

Der ukrainische Schriftsteller Serhij Zhadan will nicht, dass der Krieg in seiner Heimat vergessen wird. Er greift zu seiner Waffe – dem Wort, und dokumentiert die Katastrophe im Osten der Ukraine aus der Perspektive eines Durchschnittsbürgers.

Für seinen neuen Roman „Internat“ verwendet Zhadan eine lang erprobte literarische Methode. Der Hauptcharakter, ein Ukrainisch-Lehrer namens Pascha, macht sich auf den Weg, um seinen Neffen aus dem Internat im Epizentrum des Krieges abzuholen. Die Reise, die in den normalen, friedlichen Zeiten wenige Stunden gedauert hätte, wird zu einem großen Abenteuer, der Roman zu einem Drehbuch für ein Horror-Roadmovie

„Internat“ ist eine Odyssee ohne Held. Pascha ist weder sympathisch noch abstoßend. Er ist einfach ein Niemand. Die Frage, auf wessen Seite Pascha steht, kann dieser nicht einmal selbst beantworten. Zhadan liebt Pascha nicht, er hasst ihn sogar. Solchen Paschas, Menschen ohne Überzeugungen und ohne Mut, die nicht mal versuchen, ihre Heimat zu verteidigen, wirft Zhadan vor, den Krieg in seine Heimat gebracht zu haben. Mit der schweigenden Zustimmung der unbeteiligten Beobachter konnte der nicht zu identifizierende, vermummte Feind die Ost-Ukraine zerstören und Tausende von Menschen töten oder zur Flucht zwingen, was man unter diesen Umständen als pures Glück bezeichnen darf. Aber gab es überhaupt Menschen, die diesem Feind widerstehen konnten und wollten? Wenn ja, dann sind sie schon längst tot, denn so einen Kämpfer trifft Pascha unterwegs kaum.

Nicht zufällig stellt Zhadan seinen Hauptcharakter als behindert dar. Pascha ist ein Gesamtbild für seine Generation – auf den Trümmern der Sowjetunion aufgewachsen, leidet er an Willenlosigkeit und Demut. Diesen Menschen, die gerade zwischen 35 und 55 Jahre alt sind, fehlt die beispiellose Stärke der Nachkriegsgeneration und die rücksichtslose Entschiedenheit der jüngeren Menschen, die bereit sind, nicht nur zum Wort, sondern auch zu der Waffe zu greifen. Der behinderte, aber arbeitsfähige Pascha ist eine Metapher für den kaputten Homo Postsovieticus, der sich selbst nicht als vollwertigen Mensch empfindet und nicht mal den Traum von einer schönen neuen Welt hat.

Paschas Welt ist schwarz-weiß und neblig, mit den Gespenstern der sowjetischen Vergangenheit besiedelt. In dieser Welt kann man sich nur blindlings bewegen. Pascha geht los und versucht, etwas durch den Rauch und Dunst zu erblicken. Was er sieht, bewegt sich noch, ist aber längst gestorben. Die Menschen haben sich in Schatten verwandelt und versuchen nur, an den mit Maschinengewehren bewaffneten oder bellenden Wächtern der Hölle vorbei zu schleichen. Ob er als derselbe Pascha nach Hause zurückkehrt, wenn überhaupt?

Wer sich eine wirklich grausame Lektüre wünscht, greift meistens zu Texten über ausgedachte Kreaturen. Zhadan aber zeigt dem normalen Leser, der nach dem ausgiebigen Abendbrot mit dem Lesen anfängt, dass die Wirklichkeit viel schrecklicher ist als die Märchen über Monster, denn der Mensch sich selbst mehr Schaden zufügen kann als jedes Horrorwesen aus einem Phantasiebuch. In Russland muss man auf jedem Buch die Altersfreigabe drucken. „Internat“ sollte in diesem Fall zusätzlich zum Label „18+“ eine Warnung haben: Vorsicht, enthält grausame Szenen.

Zu einer russischen Printausgabe ist es allerdings noch nicht gekommen. Das ukrainische Original wurde zwar ins Russische übersetzt und in manchen Online-Bibliotheken veröffentlicht, ist aber nicht für die großen Leserkreise zugänglich. Serhij Zhadan ist im heutigen Russland eine persona non grata. Seine Texte sind nur für einen engen Zirkel der Nicht-Einverstandenen bestimmt. Das Wort „Russe“ oder seine Ableitungen kommen in dem Text von „Internat“ zwar niemals vor, es ist trotzdem nicht schwer zu erkennen, wer aus der Zhadans Perspektive für die beschriebenen Grausamkeiten verantwortlich ist. Deswegen empfehle ich das Buch vor allem den sogenannten „Russland-Verstehern“ und den Befürwortern der aggressiven Auslandspolitik des heutigen Russlands, welche immer noch davon überzeugt sind, dass die russischen Militärtruppen in der sonnigen Ukraine ihren Urlaub verbringen und ausschließlich die friedliche Bevölkerung vor der vermeintlich brutalen ukrainischen Armee verteidigen.

Die Zeit und der Ort, in denen „Internat“ spielt, lassen sich genau bestimmen: es ist der späte Winter 2015, als der Kampf um den strategisch wichtigen Eisenbahnknotenpunkt Debalzewe in der Ost-Ukraine tobte, in dem fast 500 Menschen ums Leben kamen und genauso viele verletzt wurden. Über dieses Blutvergießen gab es damals täglich knappe, wortkarge Berichte in den europäischen Medien. Zhadan spricht über diese Tragödie ohne Vorsicht. Er schreit den Schmerz auf den Seiten seines Romans laut heraus, jedes Wort schreibt er mit seinem Blut.

Wer aber Ukrainisch beherrscht und das ukrainische Original des „Internats“ mit der deutschen Übersetzung vergleicht, dem fällt die misslungene Wiedergabe der obszönen Ausdrücke auf, die für Zhadan eines der wichtigsten Stilmittel sind. Der gebürtige Ukrainer Juri Durkot, der zusammen mit der Wienerin Sabine Stöhr an der deutschen Übersetzung gearbeitet hat, weiß bestimmt, worin sich das scharfe slavische Wort blyad´ von einem farblosen internationalen fuck unterscheidet. Das renommierte Übersetzer-Team hat sich trotzdem davor gescheut, zumindest die direkte Rede so wiederzugeben, wie sie in Zhadans Original steht. Mit allem Respekt, diese weichgespülte Übersetzung entspricht nicht den modernen Standards der Übersetzung. Der Leser muss wissen, dass an jeder „aufgebesserten“ Stelle ein starkes, nicht für jedes Ohr bestimmtes Wort kommen sollte. Das ukrainische Original sowie die russische Übersetzung machen auf den Leser einen viel tieferen Eindruck, als der moderate, fast künstlich wirkende deutsche Text. Dennoch hat die deutsche Übersetzung des „Internats“ den Übersetzerpreis der Leipziger Buchmesse 2018 bekommen. Ein höheres Lob kann man sich nicht wünschen. Gleichzeitig weist diese Tatsache darauf hin, wie wenig sich die Preisjury mit den Feinheiten der slavischen Sprachen und Literaturen auskennt.

Und trotzdem, es ist sehr erfreulich, dass der Roman „Internat“ von Serhij Zhadan das Interesse des deutschen Publikums für die junge ukrainische Literatur geweckt hat. Bestimmt warten auch andere ukrainische Texte auf die Zeit ihrer internationalen Entdeckung. Die ukrainische Sprache und Literatur sind Stieftöchter der westlichen Slavistik. Meines Wissens gibt es in Deutschland keinen Lehrstuhl für ukrainische Philologie, was wirklich bedauerlich ist, weil die ukrainische Literatur nicht unbedeutender ist als die polnische oder tschechische. Sie ist ein noch unentdeckter Schatz für die Forscher der slavischen Literaturen. Nun müssen wir hoffen, dass das Land bald aus dem Kriegszustand zum normalen Leben zurückkehrt und dass das für die hohe Qualität der Literatur aus der Ukraine ohne Folgen bleiben wird.

Autor: Roman Clawien