„Kein Mitleid mit niemandem“

Zhadan, Serhij. Internat. Berlin: Suhrkamp, 2018. 300 Seiten. 22 Euro.
ISBN 9783518428054


 

Während in Russland vier Wochen lang die Fußball-Weltmeisterschaft zelebriert wurde, fiel es Medien und Zuschauern erstaunlich leicht, zu vergessen, dass nach wie vor Krieg in der Ostukraine herrscht. Zum richtigen Zeitpunkt erscheint der Roman Internat von Serhij Zhadan, der genau diese Region zum Zentrum der Erzählung macht. Eine Region, die lediglich zeitweise ihren Platz in der Medienberichterstattung während der russischen Annexion der Krim 2014 fand. Vier Jahre später spricht niemand mehr über den Donbass. Die Stimmen der Menschen dieser Region haben es ohnehin nie in die Ohren der internationalen Gemeinschaft geschafft. Noch immer ist der Donbass Schauplatz kriegerischer Handlungen zwischen ukrainischen Streitkräften und pro-russischen Separatisten. Der Krieg erzeugte (und erzeugt noch immer) Tote, Flüchtende und ein kollektives Trauma. Wie es sich anfühlt, wenn Bekanntes und Vertrautes nicht mehr sind und wie der Krieg einen Menschen verändern kann, zeigt uns Zhadan in einem packenden und unbequemen Roman über den Krieg im Donbass.

Serhij Zhadan, Schriftsteller, Dichter und Publizist, 1974 in Starobilsk (Oblast Luhansk) geboren, studierte Literaturwissenschaft, Ukrainistik und Germanistik. Er machte sich in Deutschland zunächst durch seine Auseinandersetzung mit dem Postsozialismus und dem Roman Depeche Mode (2007) einen Namen. Nun wird er vor allem mit seinem Engagement im Donbass in Verbindung gebracht. 2014 erschien Die Erfindung des Jazz im Donbass, weiter hielt der Ukrainekonflikt in Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte aus dem Krieg. (2015) Einzug. Es folgte Laufen ohne anzuhalten (2016). Er bereiste mehrfach den Donbass, um Benefizkonzerte und Hilfskonvois für die vom Krieg geplagte Region zu organisieren.

Es scheint eine unspektakuläre Angelegenheit zu werden und es bedarf viel Überredungskunst des Vaters, Pascha davon zu überzeugen, in den Bus zu steigen und seinen Neffen aus dem nicht allzu weit entfernten Internat abzuholen. Hier folgt der Text dem klassischen Aufbau einer Heldenreise. Die Hauptfigur erhält einen Auftrag. Nun zieht sie los, um diesen zu erfüllen.

Doch schnell stellt Pascha fest, dass er vielleicht doch ein wenig aufmerksamer die Nachrichten hätte verfolgen sollen. Der menschenleere Bus bereitet ihm bereits Unbehagen und er ahnt noch nicht, dass er am Beginn einer schweren dreitägigen Reise durch Kampfgebiete steht. Immer wieder gerät Pascha zwischen die Fronten bei seinem Versuch, das Internat, in dem sein Neffe untergebracht ist, zu erreichen.

Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei Internat bloß um einen Kriegsroman handelt, doch ein genauer Blick auf die Hauptfigur verrät, dass Internat vor allem ein Entwicklungsroman ist. Pascha, ein mitdreißiger Lehrer, leicht übergewichtig mit kaputter Hand und Kurzsichtigkeit, gibt nicht viel auf die Geschehnisse um ihn herum. Seine Mutter ist tot, das Verhältnis zu seinem Vater eher schwierig und seine Schwester mehr oder weniger nicht erreichbar. Dass er den Sohn seiner Schwester holen muss, gefällt ihm nicht. Auch sonst ist Pascha ein Mann, der dem Unbequemen eher aus dem Weg geht. Dass seine Schüler keinen Respekt vor ihm haben und seine Umwelt sein Unterrichtsfach – Ukrainisch – belächelt akzeptiert er klaglos. Seine frühere Geliebte Marina lässt er trotz abgelehntem Heiratsantrages bei sich wohnen, bis sie sein Desinteresse und die mangelnde Bereitschaft, politisch Stellung zu beziehen, nicht mehr aushält und ihn schließlich ganz verlässt.

Seine Gleichgültigkeit und Feigheit lernt er allerdings im Laufe seiner Reise abzulegen. Die verschiedensten Herausforderungen, sich durch das Gebiet zu kämpfen, stärken den Lehrer, der anfangs noch ängstlich und unbeholfen Soldaten und fremden Zivilisten (genauer gesagt fliehenden Frauen und Kindern) gegenübertritt. Immer wieder wird er gezwungen Verantwortung für sich und andere zu übernehmen und eine Führungsposition einzunehmen. Als er am zweiten Tag seiner Reise dann schließlich das Internat erreicht, entspannt sich die Lage nicht. Nun muss er sich und seinen dreizehnjährigen Neffen Sascha nach Hause bringen. Doch der Rückweg gestaltet sich als noch schwerer als der Hinweg und die beiden geraten fast in Kampfhandlungen.

Während der gesamten Erzählung sind sich Erzählstimme Pascha und auch der Leser/die Leserin nie ganz sicher, wen sie vor sich haben: Ukrainische Streitkräfte oder Separatisten, Freund oder Feind? Ganz bewusst verzichtet die Erzählinstanz Farben, Nationalitäten oder Seiten zu benennen, stattdessen kommen lediglich Personalpronomina wie wir, uns, ihr, euch, sie zum Einsatz. So geht es auch nicht darum, Gründe und Erklärungen für den Krieg im Donbass zu finden. Internat ist ein Roman, der sich in erster Linie mit der Entwicklung eines Menschen auseinandersetzt. Die Spaltung einer Gesellschaft und die Hilflosigkeit in dieser Situation werden immer wieder betont. Häufig befreit sich Pascha aus diesem Dilemma mit einer Art traurigem Mantra: „Kein Mitleid mit niemandem.“ Paradoxerweise handelt er aber entgegen dieses Grundsatzes. Er versucht einem Großvater einen Arzt zu beschaffen, organisiert Verpflegung und Transport für die, am Bahnhof gestrandeten, flüchtenden Frauen und Kinder, unterstützt das Internat bei der Wasserversorgung, hilft verwundeten Soldaten und leistet einem sterbenden Soldaten Beistand während seiner Operation.

Durch die Augen Paschas verfolgt der Leser/die Leserin minutiösen fast, unangenehm langatmigen Beschreibungen des Kriegsschauplatzes, die an eine dystopische Erzählung erinnern. Zhadans Liebe für den Donbass ist an vielen Stellen deutlich zu erkennen: Die poetischen Beschreibungen von Farben und Gerüchen erschaffen das Bild einer einst schönen aber nun zerfressenen Landschaft, einer Hölle auf Erden. Dabei geht fast die eigentliche Stärke des Romans unter: Die Dialoge. Nicht bloß der Kriegsschauplatz, sondern die Gespräche zwischen Pascha und den Soldaten, den Flüchtenden oder seinem Neffen, verleihen dem Schrecken im Donbass eine reale und authentische Dimension und tragen maßgeblich zur Charakterentwicklung der Hauptfigur bei.

Bedrückender wird es, wenn sich der Text in einen Augenblick augenscheinlich auf eine Metaebene hebt. In einem Gespräch mit einem Separatisten erklärt der Soldat Pascha mit Hilfe eines Kohlestücks, auf dem ein Farn abgedruckt ist, die Bedeutung der Menschen in der Historie: „Du und ich, wir waren noch nicht geboren, und er war schon eine Million Jahre alt. Du und ich, wir werden verrecken, und er wird weiter hier liegen. Geschichte, verstehst du? Das ist Geschichte. Du und ich aber, wir sind keine Geschichte. Heute gibt es uns, und morgen nicht mehr.“ Die Angst, der Krieg im Donbass verliere an Relevanz für die internationale Gemeinschaft und dass er in der „Belanglosigkeit“ eines „weiteren von vielen“ Kriegen verschwinden würde, wird an dieser Stelle deutlich unterstrichen.

Hier und da findet sich im Text auch Kritik an den Medien. Häufig wurde in der (westlichen) gesellschaftlichen Debatte um die Krimkrise der Konflikt in der Ukraine auch als Informationskrieg bezeichnet, weil so intensiv wie nie zuvor die Authentizität von Nachrichten und Meldungen in Frage gestellt wurden. Auch Pascha gibt nicht viel auf den Fernseher und wird immer wieder von seinen Bekanntschaften verwundert gefragt, ob er denn kein Fernsehen schaue. So übt der Text an vielen Stellen Kritik an der Hauptfigur Pascha, wegen seines mangelnden Interesses und seiner anfangs gleichgültigen Haltung, doch es wäre zu kurzsichtig, die Analyse an dieser Stelle zu beenden.

Das Internat ist auf unverblümte Art und Weise Symbol für eine ganze Region, die völlig isoliert ist und für viele von keinem Interesse mehr ist, denn ein Internat in der Ukraine ist, entgegen der allgemeinen, westlichen Annahme, kein Ort für Kinder Wohlhabender, sondern Auffangstelle verwaister, sozial ausgegrenzter und unterprivilegierter Kinder. Pascha, durch den die Leserinnen und Leser eine Art Katharsis erfahren, ist mehr als nur eine Figur in der Geschichte eines Kriegs. Er ist das Symbol für eine Gesellschaft, die dazu aufgefordert wird die Augen zu öffnen und endlich Verantwortung zu übernehmen. Damit zeigt Zhadan nicht nur auf die Bewohner der Ostukraine, oder gar der restlichen Ukraine. Nein, dies ist auch eine Aufforderung an alle übrigen Europäer.

 

Autorin: Shahla Shahriari