“Als ich meine Tochter das erste Mal auf meinen Armen trug und in ihre großen Augen sah, wurde mir klar, dass Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl ist.”
Unser neuer Aufenthaltsort hieß Hansaplatz. Standort, Daueraufenthalt, Wohnsitz, wie auch immer man es nennen möchte … Bleibe, Unterschlupf, Herberge. Letztere wurde zu unserem ersten Anlaufpunkt in dieser neuen Welt, diesem neuen Land, dieser neuen Stadt. Alles, was ich damals wusste, war, dass ich mich mit meinem alten Kollegen Mireczek in Hamburg am Hansaplatz treffen würde. Mireczek hatte sich wagemutig als einer der Ersten aus dem Land gewagt. In Polen wurde er mal als Landesverräter verurteilt, mal als Held gefeiert. Böse Zungen sagten ihm nach, dass er als Spion für die polnische Regierung in Deutschland arbeite, um alle abzufangen, die versuchten, illegal aus der Heimat zu fliehen und sie dann zurück nach Polen brachte. Andere behaupteten wiederum, er habe es durch Geschäfte mit den Deutschen zu etwas gebracht. So oder so – ich war voller Bewunderung für diesen Mann, über den so viele Geschichten kursierten.
Vielleicht war es lebensmüde, meiner Frau vorzuschlagen, unseren „Kurztrip“ in Hamburg zu beenden. Das erschien aber einfach besser, als in die Heimat zurückzukehren und in den alten Trott zu verfallen. Der alte Trott – das hieß, ständig von Polizisten und Beamten angehalten zu werden oder immer wieder schwachsinnige Strafzettel zu bekommen („Ihr Rückspiegel ist falsch eingestellt. Durch den toten Winkel gefährden Sie andere Verkehrsteilnehmer!“). Die Regierung sah es gar nicht gerne, dass ich mein Auto als Taxi angemeldet hatte und damit versuchte, etwas unabhängiger zu sein. Ich hatte es satt, mit meiner Frau in einem schäbigen fünf Quadratmeter kleinen Zimmer zur Untermiete bei einem alten Ehepaar zu wohnen. Eine Familie wollte ich dort erst recht nicht gründen. Meine Frau war Alicja damals noch nicht, trotzdem nannte ich sie so, weil sie es sich durch die Geduld mit mir verdient hatte. Wer traute sich schon, einfach durchzubrennen und ganz neu anzufangen? Mein Verlangen, aus diesem kaputten Land abzuhauen, wurde von Tag zu Tag größer. Ich fand es nicht normal, für lebensnotwendige, menschliche Bedürfnisse anstehen zu müssen und meine ehrliche Meinung über Politik verschweigen zu müssen. Das fand niemand gut, aber die meisten verharrten in ihrer Angststarre und waren der Meinung, als einzelne Person nichts gegen das System ausrichten zu können. Daher behielten wir unsere Fluchtgedanken zunächst für uns, bis ich eines Tages die Idee hatte, wie ich sie in einen Fluchtplan umwandeln konnte. Ich kannte jemanden, der jemanden kannte, der Visa für Kurzreisen ausstellen konnte. Unter dem Vorwand, dass wir gerne mal einen Urlaub im Westen machen würden, organisierte uns dieser jemand tatsächlich ein Visum. Vielleicht ahnte er, dass wir uns so schnell nicht wiedersehen würden, als ich alle nötigen Unterlagen von ihm abholte und er mir bedeutungsschwanger zuzwinkerte.
So fuhr ich also mit meiner Frau und ein wenig Handgepäck mit dem Schiff von Swinemünde über Lübeck nach Kopenhagen. Hauptsache erstmal weg, dann weitersehen. Die meisten Mitreisenden waren Rentner und ich bezweifelte, dass sie die gleiche Idee hatten wie wir. Doch auch ein paar Alleinreisende und junge Pärchen stiegen mit uns an Bord. Vor der Abfahrt wurden wir akribisch abgetastet und eingehend befragt. Unser Plan, die anderen Mitreisenden zu ignorieren, ging auf: Schon in der ersten Nacht plapperten die Ersten betrunken von ihren Fluchtplänen und wurden daraufhin in ihren Kajüten eingesperrt. Wegen eines Sturmes musste das Schiff im Hafen von Travemünde anlegen und so war es wohl Schicksal, dass wir schließlich in Hamburg landeten. Das war mir auch ganz recht. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was aus Mireczek geworden war. Als wir an den Landungsbrücken ankamen, wurde mir die Ähnlichkeit zwischen Hamburg und meinem Geburtsort Szczecin bewusst: beide waren Hafenstädte und doch waren sie so verschieden. Gedankenverloren blickte ich auf die Schiffe, die im Hafen ankamen oder ihn verließen. Zwei Häfen in zwei verschiedenen Welten.
Zu Fuß erreichten wir den Hansaplatz. Wir fragten Passanten nach dem Weg, indem wir ihnen stumm ein Blatt Papier mit der Adresse zeigten. Hamburg war riesig, elegant und gepflegt, nicht wie das ehemals zerbombte und zerschlissene Stettin, aus dem wir kamen. Straßenbahnen fuhren hier unter der Erde, statt direkt auf der Fahrbahn. Den Bewohnern schien es gut zu gehen. Die Menschen waren bunt gemischt, wir sahen Hauttöne, die man bei uns nie gesehen hatte. Am Hansaplatz angekommen, hielten wir nach Mireczek Ausschau. Müde und aufgewühlt ließen wir uns am Brunnen in der Mitte des Platzes nieder. Wir hatten es bis hierher geschafft. Wir waren zuvor so beschäftigt damit gewesen, unseren Fluchtplan im Kopf durchzuspielen, dass wir nie bis zu diesem Punkt der tatsächlichen Ankunft in Hamburg gekommen waren. Die Sonne ging langsam unter und wir blieben schweigend am Brunnen sitzen. Es war zwar Sommer, aber die Nacht schien frisch zu werden. Ich wusste nicht, wen ich noch nach meinem Kollegen fragen sollte. Plötzlich ertappte ich mich dabei, unser ganzes Vorhaben anzuzweifeln. Wir hatten keine Ahnung von diesem fremden Land und von der neuen Sprache. Panisch dachte ich an die paar hundert Mark, die ich zerknüllt im Hohlraum meines Schuhabsatzes versteckt hielt. Wie lange würden die hier wohl reichen? Ein Poltern riss mich aus meinen Gedanken. Eine Flasche rollte mir vor die Füße. Ich vernahm ein gedämpftes „Kurwa“ und eine Gestalt tauchte vor uns auf. „’ntschuldigung!“ Vor uns beugte sich ein Mann, um die Flasche wieder aufzuheben. Ich schaute ihm ins knallrote Gesicht, das von einem ungepflegten Vollbart und einer Glatze eingerahmt wurde. Er war zwar gut angezogen, wirkte aber dreckig. Gerade, als er sich umdrehte und mit seiner Flasche weiterziehen wollte, platzte es mir in meiner Muttersprache heraus: „Sind Sie aus Polen?“ Sofort drehte sich der Mann um, musterte uns und meinte: „Wer denn nicht?“. Voller Hoffnung sprang ich auf und stellte uns vor: “Wir sind gerade erst angekommen und wissen nicht, wo wir anfangen sollen.“ Auf einmal dämmerte es mir und ich wusste, wen ich da vor mir hatte. Vor uns stand Mireczek! Ich erzählte ihm, dass wir seinem Vorbild folgend nach Deutschland gekommen seien. “Darauf müssen wir anstoßen! Auf die Freiheit, willkommen in der Freiheit!”, brüllte er, nahm einen Schluck aus der Flasche und bot sie auch uns an. Mireczek, so erfuhren wir, arbeitete mal hier, mal dort, schwarz, um über die Runden zu kommen. Seine Frau Dominika half nachts in einer Spülküche auf der Reeperbahn aus. “Das Leben hier bietet dir viele Möglichkeiten”, sagte er und gönnte sich ein paar weitere Schlucke. Er meinte, dass nachher noch ein paar Landsleute vorbeikommen würden. Wir waren aber von den vielen neuen Eindrücken erschlagen und wollten nur noch schlafen. Unser neuer alter Freund zeigte uns das kleine Hotel „Zur Herberge“, da er selber keinen Platz in seiner Wohnung hatte. „Zur Herberge“ war ein baufälliges und spärlich eingerichtetes Hotel. Es drang kaum Licht durch die kleinen, schmalen Fenster. In unserem Zimmer standen zwei Einzelbetten, ein Nachtschrank und eine Nachttischlampe. Ein Gemeinschaftsbad gab es auf dem engen Flur. Die Hotelbesitzerin Uschi verlangte stolze zehn Mark pro Person ohne jedoch weitere Fragen zu stellen. In den ersten Tagen erkundeten wir Hamburg zu Fuß. Wir bewunderten die vollen Läden und die große Auswahl verschiedener Orangensorten. Orangen – eine Rarität, die wir in Polen nur zu Weihnachten bekamen. Die Läden waren so voll mit Waren – wir kamen uns dekadent vor, hier einzukaufen. Irgendwie schämte ich mich, hier nur fünf Minuten mit einem vollen Einkaufskorb anzustehen, während man 500 km weiter östlich vier Stunden auf ein Laib Brot warten musste. Was für einen Unterschied eine Grenze ausmachen konnte.
Nun waren wir aber in Deutschland. Es wurde unser Ritual, einmal pro Woche unbekannte Lebensmittel auszuprobieren. Dieses Leben im Überfluss war nicht das Einzige, an das wir uns erst gewöhnen mussten. Einmal stand ich an der Kasse hinter einem dunkelhäutigen Mann. Er unterhielt sich rege und laut mit einem Kollegen in einer Sprache, die mir nicht geheuer war. Ich war in Gedanken und die Kassiererin holte mich zurück in die Realität. Leider hatte sie mich eiskalt mit einer Frage erwischt, die ich nicht verstand. Völlig irritiert schaute ich sie an. Der Dunkelhäutige, der mit seinem Einkauf bereits fertig war, sah mir meine Verzweiflung an. Er zeigte zuerst auf die Plastiktüten und dann auf meine Geldbörse. Peinlich berührt schaffte ich es gerade noch, ein „Nein, danke!“ herauszubekommen. Das war ein dicker Denkzettel. Der Mann und Ich. Wir waren doch eigentlich gar nicht so verschieden. Zwei unterschiedliche Geschichten, ein Schicksal und die Hoffnung, auf eine bessere Zukunft.
Unser Leben drehte sich von nun an um den Hansabrunnen. Fast täglich trafen wir hier dieselben Leute – Mireczek, seine Frau Dominika und weitere Landsleute. Jeder von ihnen hatte kostbare Informationen für unseren Neustart in Hamburg und so wurde jede Begegnung zu einem Erfahrungsaustausch. Der eine wusste, zu welchem Amt man musste, der andere, wo man es fand. Wir kamen irgendwie zurecht. Aber um unser neues Leben aufzubauen, mussten wir Geld verdienen. Ohne Aufenthaltsgenehmigung und fehlende Sprachkenntnisse würde uns aber so schnell niemand einen Job geben. Also horchten wir jeden Tag am Brunnen, ob uns jemand Schwarzarbeit besorgen könnte. Meine Frau fand schnell Arbeit als Putzkraft bei einer älteren Dame. Ich zögerte zunächst, als ich von Mireczeks das Angebot bekam, bei einem Einbruch Schmiere zu stehen. Das Risiko, dabei gepackt zu werden, war mir einfach zu groß. Aber Mireczek hatte anscheinend großen Erfolg mit seinen Raubzügen, da er genug Geld hatte, uns ab und zu mal in eine Kneipe einzuladen. Das Problem war nur, dass er die Freiheit, die in diesem neuen Land herrschte, nutzte, um dem Alkohol besonders zu verfallen. Aus Sehnsucht zur Heimat, pflegte er immer zu sagen. In ihm tobte ein Identitätskonflikt. Einerseits schämte er sich, in Anwesenheit von Deutschen Polnisch zu sprechen, brüllte aber regelmäßig betrunken die polnische Hymne auf den Hansaplatz heraus. Die Eindrücke, die ich hier sammelte, überschatteten zunächst mein Heimweh. Telefonische Kontaktaufnahme nach Polen war gefährlich, weil man sicher sein konnte, abgehört zu werden. Das erste Lebenszeichen an meine Eltern nach unserer Ankunft in Hamburg, war eine Postkarte mit dem Abbild des Hafens und einem Satz von mir: „Wolność pozdrawia!“ Das war Aussage genug für meine Eltern und nicht zu viel Information für diejenigen, die meine Postkarte im Vorfeld abfangen und lesen würden. Als ich meine Eltern Jahre später nach dieser Postkarte fragte, wussten sie nichts davon.
Nach und nach sammelten wir alle Papiere, die man als Ausländer brauchte. Wir wurden stets freundlich behandelt, trotz unserer schlechten Sprachkenntnisse. Es kam mir schon fast befremdlich vor, mit welcher Geduld wir in den Behörden und Ämtern behandelt wurden. Die Erinnerung an die breit lächelnde Sachbearbeiterin, die meiner Frau zum Geburtstag gratulierte, als sie die Daten von ihrem Ausweis abschrieb, hat sich mir bis heute ins Gedächtnis gebrannt. Damals träumte ich noch von der Weiterreise in die USA – noch weiter weg vom Sozialismus, dorthin, wo der Westen noch westlicher war als in Deutschland.
Inzwischen war ich durch eine Bekanntschaft vom Brunnen zu einer Arbeit als Spülkraft gekommen. Die Deutschen waren sich wohl zu schade für den Job, aber als ich die ersten hundert Mark Lohn in der Hand hielt, fühlte ich mich wie ein König. Eines Abends verschlug es uns auf die Reeperbahn. Man sagte der Reeperbahn nach, dass dort die Freiheit in ihrer äußersten Form ausgelebt werden würde. Die grellen Neonlichter blendeten uns. Tatsächlich fand man hier unzählige Kneipen, dubiose Abendlokale, Stripclubs und Casinos. Ich versuchte mein Glück an den Spielautomaten. Dabei verlor ich zwar mein Geld, wurde aber um eine Information reicher. Piotr, den wir auf der Reeperbahn kennenlernten, verriet uns, dass wir mittlerweile als Asylanten mit Duldung das Recht auf eine eigene Wohnung hätten. Meine Frau konnte ihr Glück kaum fassen. Das war unser Jackpot. Wir luden Piotr auf ein Bier ein. Es zeigte sich jedoch, dass Piotr ein großer Patriot war und so gerieten wir in einen Disput.
-Für mich bedeutet Heimat meine Wurzeln, meine Kindheit … Erinnerungen.
-Und was ist mit dem hier und jetzt? Du bist doch hier in Deutschland?
-Das ist doch nur aus der Not heraus. Heimat, ist der Ort, woher man kommt.
-Sollte nicht Heimat der Ort sein, wo man sich sicher fühlt und es einem gut geht? Wir haben hier doch praktisch alles. Du bist doch nicht ohne Grund hier.
Eingeschnappt kippte Piotr sein Bier herunter und stürmte aus der Kneipe. Ich machte mir noch lange Gedanken über unser Gespräch. Einerseits hatte er Recht. So viele Erinnerungen hingen an Polen. Dort habe ich gelebt, dort bin ich aufgewachsen. Doch ich hatte es dort irgendwann einfach nicht mehr ausgehalten. In Deutschland fühlte ich mich zwar frei, konnte Hamburg jedoch noch nicht meine Heimat nennen. Genauso wenig wie Polen.
Dann war es soweit, meine Frau und ich durften in unsere erste, gemeinsame Wohnung ziehen. Sie war zwar klein, aber sie gehörte nur uns – das war die Hauptsache. Wir richteten uns mit Sperrmüll von der Straße ein. Erstaunlich, was die Deutschen alles wegwarfen. Meine Frau putzte noch immer bei älteren Damen, die sie aufgrund ihrer Gründlichkeit überdurchschnittlich gut entlohnten. Ich selber fand eine Festanstellung als Elektrotechniker. Es ging uns gut. Besser als es Mireczek ergangen war. Seine Frau arbeitete als Prostituierte auf der Reeperbahn und uns ereilte eines Wintermorgens die Nachricht, dass er in der Nacht am Hansabrunnen erfroren war. Jetzt war er genauso steif wie die anderen Statuen am Hansabrunnen, neben denen wir so viele Stunden verbracht hatten.
Jahre später fand ich die Antworten auf meine Fragen. Meine Frau gebar uns eine Tochter. Als ich sie das erste Mal auf meinen Armen trug und in ihre großen Augen sah, wurde mir klar, dass Heimat kein Ort, sondern ein Gefühl ist.
Diese Kurzgeschichte von Anna Kusa entstand im Rahmen des Seminars „Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen“ von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.