Oral History #5 – Eine fremde Heimat

 

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„Wie soll ich irgendwohin zurückkehren, wo ich noch nie gewesen bin? Ist das nicht unlogisch?”

Es war ein schöner Frühlingsmorgen. Die Bäume begannen zu blühen, draußen war es warm und man fühlte sich von der Natur eingeladen, die wunderschöne Luft einzuatmen. Ein ganz normaler Tag im März – doch irgendetwas war anders als früher, irgendetwas hatte sich verändert. Auch wenn die Natur eine unglaubliche Ruhe ausstrahlte, verspürte ich dieses Jahr, an diesem Märztag eine gewisse Unruhe. Diese Unruhe vergiftete die Reinheit der Natur. Die Menschen haben leider die Gewohnheit, alles um sich herum zu vergiften, sei es nun die Umwelt oder die Stimmung eines wunderschönen Frühlingstages.

Seit 19 Jahren lebte ich in diesem Land, in dem meine Eltern vor langer Zeit eine neue Heimat gefunden hatten. Wir sind vorbildliche Sowjetbürger, gut ausgebildet, ehrliche Arbeiter und wir haben nur das zum Leben, was wir wirklich brauchen. Und doch sind wir etwas anders. Zumindest sagten das die Menschen in unserer Stadt. Wir sind Deutsche. Was bedeutet das? Warum sind wir „andere“ Menschen? Wir sprechen doch dieselbe Sprache. Wir – das sind meine Eltern, mein Bruder und ich. Wir leben doch schon immer hier? Ich denke, ich werde das nie verstehen. Auch wenn die Menschen um uns herum uns stets als Fremde ansahen und uns das immer wieder zu verstehen gaben, lebten wir friedlich miteinander. Bis zu diesem Frühling. In unserer Heimat fühlten wir uns nicht mehr sicher – wir mussten weg.

Also beschloss mein Vater, dass wir nach Deutschland zurückkehren würden. Ich weiß nicht, warum er immer wieder diesen Ausdruck nutzte, schließlich war ich noch nie in Deutschland gewesen. Wie soll ich irgendwohin zurückkehren, wo ich noch nie gewesen bin? Ist das nicht unlogisch?

Wir packten unsere Koffer. Jeder von uns durfte nur einen Koffer mitnehmen, mehr war nicht erlaubt. Das war kein Problem – wir hatten noch nie viele Sachen besessen. Ich redete mir ein, dass wir nun in eine sichere Welt zurückkehren würden, in die wir schon immer gehört haben. Die Menschen dort würden sicher sofort erkennen, dass wir zu ihnen gehörten.

In der Nacht vor der Abreise war ich sehr aufgeregt und konnte kaum schlafen, dabei mussten wir uns eigentlich gut ausruhen – in den nächsten zwei Nächten würden wir bestimmt keine Möglichkeit dazu haben. Tausend Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum. Ich versuchte mir vorzustellen, wie meine neue „alte“ Heimat wohl aussehen würde.

Am nächsten Morgen war es endlich so weit. Wir stiegen in den Zug und fuhren nach Moskau, um von dort aus nach Hannover zu fliegen. Moskau – diese verdammte Stadt. Laut, ungemütlich und voller Menschen, die nur mit sich selbst beschäftigt sind. Mit uns reisten noch etwa 50 weitere Aussiedler Richtung Deutschland. Am Flughafen wurde uns sämtlicher Schmuck abgenommen. Es war angeblich nicht erlaubt, wertvolle Schmuckstücke mit nach Deutschland zu nehmen. Keiner konnte uns allerdings erklären warum, in welchem Gesetz das geschrieben stand. Da standen wir nun mit unseren Koffern und ein paar deutschen Mark in der Hand. Es war regnerisch und kalt. Wir waren müde und hofften nur auf ein warmes Bett. Der einzige Lichtblick an diesem Tag: Wir bekamen ein Zimmer in einem Hotel für die deutschen Umsiedler!

Am nächsten Tag saßen wir in einem schönen, großen Flugzeug auf dem Weg nach Hannover. Ein Gefühl von Sicherheit kam auf. Alles Gefährliche und Unruhige ließen wir hinter uns. Nach ungefähr vier Stunden landeten wir auf deutschem Boden. Wir fanden uns in einem hellen, bunten Flughafen wieder. Hier gab es alles zu kaufen! Man musste sich nur entscheiden. Ich blickte fasziniert umher. Noch während ich die Vitrinen am Flughafen bewunderte, passierte etwas Seltsames. Einige Polizisten kamen uns entgegen und versperrten den Weg. Wir durften nicht mehr weiter gehen. Ich verstand kein Wort. Schon wieder war dieses Gefühl der Unsicherheit da – hatte ich dieses Gefühl nicht in der alten Heimat hinter mir lassen wollen? Panik und Angst machten sich breit. Meinem Vater, der ein bisschen Deutsch verstand, sagte man, dass am Flughafen eine Tasche voll schwerer Waffen entdeckt wurde und alle den Flughafen umgehend verlassen müssen.

Wir warteten also draußen und wurden kurz darauf mit Bussen in ein Umsiedlerlager transportiert.

 

Diese Kurzgeschichte von Marianna Babayeva entstand im Rahmen des Seminars Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.