Oral History #7 – Annabelle

 

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„Ist das hier nicht deine Welt? Wo kommst du denn her?“ „Du weißt doch, dass das nicht meine Welt ist. Du bist doch selbst nicht von hier.”

Sie war bereits seit zwei Wochen hier und wusste immer noch nicht, warum. Das interessiert sie aber auch nicht. Das einzige, was sie die letzten 14 Tage beschäftigte, war die Frage, wann sie wieder zurückgehen würden. Zurück zu ihrem kleinen Häuschen neben dem kleinen Bach, in den sie einmal hineingefallen war, als sie mit dem Hund spielte und ausrutschte, woraufhin die Mutter ganz böse wurde und mit ihr schimpfte, zurück zu ihrem Großvater, der ihr immer die lustigen Geschichten über den Wanderzirkus und all seinen zauberhaften Tieren erzählte, zu ihrer Oma, die das weltbeste Rührei machte, und natürlich zu Feliks, der Katze mit den drei Pfoten, die das Haus nicht mehr verließ, seitdem ein böser Hund ihr die rechte Hinterpfote abgerissen hatte. Hier gab es keine Rühreier, keinen Zirkus und auch keinen Feliks. Katzen gab es hier zwar, aber alle hatten sie vier Pfoten und waren auch nicht so zutraulich. Die Mutter versprach ihr, dass sie Feliks bald wiedersehen würde, aber Paula wusste, dass das nicht stimmte, nicht, weil die Mutter sie anschwindelte, sondern weil die Mutter, es nicht besser wusste.

In den ersten Tagen ihres Aufenthalts hier verbrachte Paula viel Zeit mit ihrer Mutter, die ihr oft erzählte, dass bald alles besser werden würde, dass es schlimmer sein könnte, dass sie ein besseres Leben haben würden… Nachts hörte sie die Mutter manchmal weinen und mit dem Vater tuscheln, wann sie endlich hier weg könnten. Ihr Vater war tagsüber viel unterwegs und redete mit den anderen Männern über Arbeit, Essen, Fußball und irgendwelche Aufenthaltsgenehmigungen. Warum braucht man ein Blatt Papier, um irgendwo sein zu dürfen? Oft unterhielt sich der Vater in einer Sprache, die Paula nicht kannte, wobei er viel mit den Händen gestikulierte, um sich besser verständlich zu machen. Gelegentlich nahm er Paula mit und sagte ihr, dass sie gut zuhören und lernen solle. Weil sie all dieses langweilige Gerede aber nicht interessierte, lief sie nach kurzer Zeit davon und hörte nur noch die Stimme ihres Vaters, der ihr nachrief, sie solle nicht zu weit weg laufen. Obwohl es hier auch andere Kinder gab, wollte Paula mit ihnen nichts zu tun haben. Einmal spielten sie gemeinsam Ball und Paula wurde so hart getroffen, dass sie weinend zu ihrer Mutter rannte während sie hinter sich nur noch das laute Gelächter der anderen Kinder wahrnahm.

Paula brauchte keine Freunde, denn sie hatte Annabelle. Annabelle war … ja, was war sie denn? Annabelle war ein kleines Geschöpf, vielleicht so groß wie ein Feuerzeug, mit sehr breiten, fast transparenten Flügeln, die nie aufhörten zu flattern. Sie liebte es zu reden und erzählte Paula die wundersamsten Geschichten. Es war sehr verwunderlich, dass sich das kleine Wesen Paula überhaupt gezeigt hatte, obwohl es sehr menschenscheu war. Das erste Mal begegneten sich die Beiden drei Wochen nach Paulas Ankunft an einem ungewöhnlichen Ort: der Toilette. Auf Paulas Frage hin, was sie denn ausgerechnet auf der Toilette mache, antwortete Annabelle nur: „Hier fühle ich mich sicher.“. „Warst du auch schon einmal draußen?“, fragte Paula. „Natürlich war ich schon draußen,“ erwiderte Annabelle, flog umher und drehte Kreise um Paula „aber da sind so viele Menschen. Die dürfen mich nicht sehen.“ „Warum dürfen sie dich nicht sehen?“ „Weil ich dann PUFF! zu Pulver zerfalle und für immer verschwinde.“ „Und warum kann ich dich dann sehen?“ Eine kurze Pause trat ein, bis Annabelle vor Paula schweben blieb und sagte: „Weil du kein Mensch bist.“

Nach dieser Begegnung trafen sich Annabelle und Paula fast täglich. Leider ging das nur in der Toilette, die Annabelle aus nachvollziehbaren Gründen nicht verlassen konnte. Paula hatte vorgeschlagen, das fliegende Wesen mit in ihr Zimmer zu nehmen und es zu verstecken, aber Annabelle ließ sich nicht überzeugen. Und so wurden sie Freunde, die sich alles erzählten, gemeinsam lachten und sich gegenseitig von ihrer Heimat berichteten. Paula genoss es sehr, mit Annabelle zu reden, denn sie spürte, dass ihre Eltern andere Dinge im Kopf hatten und sie wollte sie nicht belästigen. „Du vermisst deine Großeltern wohl sehr.“, sagte Annabelle als sie wieder einmal über dieses Thema sprachen. „Ich kann dir helfen, sie wiederzusehen.“ „Ja!“ schrie Paula fast, wobei sich ihre Augen sofort hoffnungsvoll weiteten und sie vor Freude fast aufgesprungen wäre. „Aber wie denn?“ „Naja, ich könnte dich nach Hause zurückbringen,“ sagte die kleine Fee „das kann ich aber nur machen, wenn ich im vollen Besitz meiner Kräfte bin. Dafür muss ich in meiner eigenen Welt sein.“ „Ist das hier nicht deine Welt? Wo kommst du denn her?“ „Du weißt doch, dass das nicht meine Welt ist. Du bist doch selbst nicht von hier.“ Darauf wusste Paula nichts zu sagen. Sie spürte, dass Annabelle recht hatte, traute sich aber nicht, diese Wahrheit auszusprechen. „Du kannst mir helfen, in meine Welt zurückzukehren.“, fuhr das kleine Zauberwesen nach einer kurzen Pause fort. „Es gibt einen Schlüssel, mit dessen Hilfe sich das Tor zu meiner Welt öffnen lässt. Das Tor befindet sich hier, aber mir fehlt der Schlüssel.“ „Wo ist denn das Tor?“, fragte Paula. „Man kann es jetzt nicht sehen, es zeigt sich nur alle 77 Tage, das nächste Mal übermorgen.“ Paula war erstaunt, dass es so ein Tor gab und vor allem war sie neugierig zu sehen, was sich dahinter verbarg. „Der Schlüssel ist leider nicht in diesem Gebäude …“ unterbrach Annabelle Paulas Gedanken. Paula wusste, was zu tun war und sie blickte ihre Freundin entschlossen an.  „Ich werde dir den Schlüssel bringen!“ versprach sie. „Und du hilfst mir auch und bringst mich nach Hause?“, fragte Annabelle, „Versprochen.“ Bevor Paula sich auf den Weg machte, wurde sie von Annabelle, wie jedes Mal, wenn sie sich trennten, gewarnt: „Denk dran, Paula, dass du niemandem von mir erzählst. Du weißt, was dann passiert. “

Draußen war es unglaublich heiß und bei dieser Hitze konnte Paula nicht richtig nachdenken. Sie musste den Schlüssel für Annabelle finden, aber zuerst brauchte sie etwas zu trinken. Als sie in die Nähe ihrer Unterkunft kam, hörte sie die lauten Stimmen ihrer Eltern. Wie in letzter Zeit öfter, stritten sie sich. Mutter beklagte sich immer über die gleichen Dinge: Warum mussten wir weg? Wann können wir hier endlich raus? Warum dauert das so lange? Hier kann man nicht leben! Und der Streit endete immer gleich. Vater umarmte sie und flüsterte ihr ins Ohr: „Es wird alles gut. Es wird alles gut.“ „… Seit drei Monaten sitzen wir in diesem Hexenkessel und nichts, aber auch garnichts passiert! Das kann so nicht weitergehen. Hast du mal an Paula gedacht?“ Paula fiel auf, dass der Tonfall heute besonders schroff war. Obwohl sie wusste, dass es besser wäre, weg zu gehen, blieb sie und lauschte vor dem Fenster. „Was, wenn wir nicht aufgenommen werden?“, fragte die Mutter verzweifelt ”und all die Mühe und all das hier umsonst war?“. „Du weißt, dass wir gehen mussten, wir hatten keine Wahl. Es gibt dort keine Zukunft, nicht für uns und ganz sicher nicht für Paula.“ Die Mutter schwieg und Vater fügte hinzu: „Es wird alles gut.“ „Immer sagst du das, aber nichts ist gut“, sagte Paulas Mutter sofort. „Hier ist alles schlechter, als es dort war. Vielleicht hätten wir nicht gehen sollen.“ „Was redest du da? Willst du, dass Paula in so einem Land aufwächst?“ „Ich …“, stotterte die Mutter und fand die richtigen Worte nicht. „Glaub mir, es wird nicht mehr lange dauern, dann sind wir hier raus. Ich verspreche es.“ Der Vater versuchte sie zu beruhigen, konnte die Unsicherheit in seiner Stimme aber nicht verbergen. „Ich halte es hier nicht länger aus.“

Diese Worte ihrer Mutter brannten sich in Paulas Gedächtnis ein. Jetzt, klarer als je zuvor, wusste sie, was zu tun war. Sie musste Annabelles Schlüssel finden und sich und ihrer Mutter den Weg nach Hause sichern. Es war komisch – Annabelle hatte ihr nie gesagt, wo der Schlüssel versteckt ist, aber Paula wusste es ganz genau. Sie erklärte es sich damit, dass sie mit ihrer Freundin eine besondere Verbindung hatte, immerhin war sie die Einzige, die Annabelle ansehen konnte ohne dass diese zu Staub zerfiel. Um keine Zeit zu verlieren, machte Paula sich sofort auf den Weg. Paula wusste zwar, wo der Schlüssel war, es erwies sich aber als recht schwierig, ihn zu bekommen …

Da dieser Teil der Geschichte so umfangreich ist, dass er ein eigenständiges Kapitel verdienen und von der eigentlichen Geschichte ablenken würde, verspricht der Autor, diesen Abschnitt in voller Länge an einer anderen Stelle nachzuholen. Es ist nur wichtig zu wissen, dass es Paula schlussendlich gelungen ist, den Schlüssel in ihren Besitz zu bringen.

Endlich hatte Paula den Schlüssel, endlich konnte sie wieder nach Hause. Voller Vorfreude begegnete sie auf dem Weg zu Annabelle ihrem Vater, der ungewohnt gut gelaunt war. „Paula, weißt du, wo Mama ist? Ich habe gute Neuigkeiten.“, ihr Vater schien vor Aufregung kaum zu bremsen. „Komm du auch mit, ich muss euch etwas erzählen.“ Ausgerechnet jetzt, wenn sie gerade dringend zu Annabelle muss, dachte Paula.  „Ich muss zu An…“ sie hielt inne. „Ich muss auf die Toilette“, verbesserte sich Paula schnell und lief weg. „Aber bitte beeil dich, Schatz!“ rief ihr der Vater nach. „Annabelle wo bist du? Ich habe ihn. Ich habe den Schlüssel.“ Nichts geschah. „Annabelle?“, rief Paula nochmal. „Ich habe den Schlüssel!“ Plötzlich hörte Paula das bekannte Flügelflattern und drehte sich um. „Hier ist er.“, Paula zeigte der Fee den Schlüssel, die sofort zu ihr flog und den Schlüssel betrachtete. „Das ist er! Ich danke dir, Paula.“ Jetzt konnte Annabelle also endlich zurück in ihre Welt und Paula, zusammen mit der Mutter nach Hause. Das wird eine Überraschung, dachte Paula. Endlich können wir weg von hier, zurück zu Oma und Opa – Ich habe ihnen so viel zu erzählen. „Und nun?“, fragte Paula ungeduldig. „Komm mit mir, das Tor ist da vorne.“ Paula folgte ihrer flatternden Freundin. „Und du kannst mich und meine Mutter wirklich zurück nach Hause bringen?“ Paula wusste nicht, warum sie das fragte. Die Antwort kannte sie ja bereits. „Natürlich!“, antwortete Annabelle. „Paula!“, Paula hörte, dass jemand ihren Namen rief. Sie drehte sich um und sah ihrer Mutter direkt in die Augen. „Paula“, rief sie „wir können gehen.“ Gehen? Jetzt schon? Annabelle ist doch noch gar nicht in … Annabelle! Oh nein, dachte Paula, weil sie vor Schreck keinen Laut von sich geben konnte. Sie drehte sich nach ihrer Freundin um, aber Annabelle war verschwunden. „Hast du mich gehört Paula? Wir können jetzt endlich gehen!“ wiederholte die Mutter und näherte sich ihrer Tochter. Paula wusste nicht, ob sie über den Verlust ihrer Freundin traurig sein oder sich über die Rückkehr nach Hause freuen sollte. „Wir gehen zurück zu Oma?“ fragte sie. Ihre Mutter umarmte sie. „Nein, mein Schatz. Wir gehen jetzt in ein neues Zuhause.“ Annabelle war weg und die Hoffnung, nach Hause zurückzukehren, verschwand mit ihr.

Diese Kurzgeschichte von Tomasz Gralla entstand im Rahmen des Seminars Leben zwischen Kulturen: Oral Histories, Zeitzeugengespräche und Interviews zu transnationalen Lebensläufen von Prof. Dr. Anja Tippner im Sommersemester 2016.