„Seitlich am Horizont, wo das Himmelslicht wie Milch und Blei schimmert“

Serhij Zhadan: „Internat“. Roman, aus dem Ukrainischen übersetzt von Sabine Stöhr und Juri Durkot. Suhrkamp Verlag, Berlin 2018, 300 Seiten, ISBN:978-3-518-42805-4, Preis: 22 Euro

 


Zhadans „Internat“ über einen Krieg, der noch lange nicht vorbei ist.


 

Der Krieg spielt sich direkt vor unserer Tür ab. Doch in den Medien ist er kaum noch präsent. Seit 2014 herrscht im Donezbecken (Ostukraine) Krieg. Der ostukrainische Autor Serhij Zhadans erklärt in seinem neuen Roman „Internat“ diesen Krieg nicht. Es ist zu früh für einen Gesamtüberblick. Eigentlich ist es auch nicht relevant, wo genau dieser Krieg stattfindet. Zhadan zeigt, porträtiert und karikiert einzelne Menschen und das, was der Krieg aus ihnen macht. Er benennt die verschiedenen Parteien nie explizit. Bei ihm sind es Kategorien wie „unsere“ und „die“, „Einheimische“ und „Fremde“. Es sind die Graustufen, an denen Zhadan interessiert ist: „Ich habe eine eindeutige Position: Ich unterstütze die ukrainische Armee. […]. Gleichzeitig ist mir klar, dass die Realität des Krieges nicht schwarz-weiß ist, es gibt viele Schattierungen. Mir scheint, es ist richtiger, genau darüber zu sprechen. Selbst wenn die Nuancen nicht sehr sympathisch sind und nicht unserem komfortablen Bild vom Krieg entsprechen“.1

Die Hauptfigur des Romans ist so ein Mensch, der über Nuancen nicht sprechen möchte. Pascha ist ein leicht übergewichtiger Ukrainisch-Lehrer und Invalide. Er will vom Krieg nichts wissen, liest keine Zeitung und schaut keine Nachrichten. Er möchte sich aus Allem raushalten und der Krieg geht ihn persönlich nichts an. Solange er sich nicht positioniert, kann ihm nichts passieren, so sein Gedanke. Doch das ändert sich schnell. Sein Neffe lebt in einem Internat, das sich in dem schwer umkämpften Gebiet befindet. Die Lage wird immer gefährlicher und so macht sich Pascha (eher widerwillig) auf den Weg, seinen Neffen Sascha aus dem Internat zu holen. Dieser dreitägige Weg gleicht einer gefährlichen Odyssee. In den Augen seines Neffen ist Pascha ein Feigling. Pascha hat nicht einmal den Mut zu sagen, dass er Ukrainisch unterrichtet. Wird er gefragt, sagt er ganz allgemein: „Ich bin Lehrer“ (S. 30). Auf die Frage hin, was genau er unterrichten würde, antwortet er nur: „Alles ein bisschen“ (S. 38) oder „Sprachen“ (S. 194). Sascha wirft ihm sogar vor, dass Leute wie Pascha eine Mitschuld an diesem Krieg haben. Dabei steht Pascha für Zhadan stellvertretend für viele Menschen aus seiner Heimat. In einem Interview sagt er: „Das ist ein weit verbreiteter Typus in der Region: Wenn ein Mensch sich nicht von der Politik angesprochen fühlt, denkt er, das gibt ihm die Möglichkeit, außerhalb der Politik zu stehen. Aber so funktioniert es nicht. Denn die Politik tritt in dein Leben, auch wenn du dich nicht für sie interessierst: Der Krieg kommt in dein Dorf“2 . Doch im Verlauf des Romans macht Pascha eine wichtige Entwicklung durch. Er wird mit dem Krieg konfrontiert und am Ende bezieht er Stellung.

Eine besondere Rolle spielen in „Internat“ die Tiere. Dabei geht es nicht nur um die Kuhkadaver oder die niedergemetzelten Hunde, die das Grauen des Krieges auch auf die Natur ausweiten. Es geht auch nicht um die Personifizierungen von Tauben, die immer wieder mit einer Menschenmasse verglichen werden. Im Roman wirken die Menschen selbst animalisch, wie Karikaturen. Sie benehmen sich absurd, werden zu Tieren und das im wahrsten Sinne des Wortes. Der Taxifahrer wird zum Leguan. Er sieht nicht nur für Pascha wie ein Leguan aus, er wird weiter im Verlauf auch nur noch als „der Leguan“ bezeichnet. Ein Soldat wird zum „Pinguin“. Ein anderer Soldat sieht nicht nur aus wie ein Polarfuchs, er benimmt sich auch „füchsisch – raubtierhaft und misstrauisch“. (S. 72) Ein anderer Soldat wird nicht einmal mehr mit etwas Lebendigem verglichen. Er ist nur noch „der Metallkopf“, weil sein Gesicht aussieht als sei es aus kaltem Eisen.

Einen starken Kontrast bilden auch die Kriegsgräuel gegenüber den kleinen, schönen Dingen – kurze Hoffnungen auf Romanzen, Erinnerungen, die bei Pascha immer wieder aufflackern, Bilder, die leben von ihrer metaphorischen Komposition. Die Beschreibung, wie Pascha das Wasser hört, das sich an der Dusche und dem unbekannten Frauenkörper bricht, gibt den kleinen Dingen eine ganz besondere, ruhige Atmosphäre. Dem gegenüber steht nicht nur die derbe Sprache der Menschen, sondern auch die Umgebung. Sie wirkt bedrohlich, unnatürlich und absurd. Die Stadt ist kein Ort mehr, in dem Menschen leben. Rauchschwaden werden zu Drachen und der Nebel zur „übergekochten Milch“. Die Sprache Zhadans im „Internat“ gibt genau den Widerspruch wieder. „[Pascha] Sieht nur eine schwarze Grube, über der große schwarze Rauchschwaden wehen wie Drachen mit langen Schwänzen. Als würden Seelen aus der Stadt herausgepumpt. Und als klammerten sich diese Seelen, schwarz und bitter, an den Bäumen fest, krallten sich mit ihren Wurzeln in die Keller. Weit entfernt, auf der anderen Seite der Stadt, lodert etwas, breitet sich über dem Horizont aus wie feurige Lava, die aus der Erde fließt. In der Stadt selbst sind Maschinengewehrslaven zu hören, aber nur noch vereinzelt, das war’s wohl für heute, Bettgehzeit.“ Zhadan beherrscht virtuos das Zusammenspiel von Derbheit und poetischer Ästhetik, nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich. Genau dabei wird die Absurdität und Sinnlosigkeit des Krieges gezeigt. Drachen und Lava stehen der Ruhe und Bettgehzeit gegenüber.

Durch diese sehr poetische, bildhafte Sprache und die vielen Metaphern ist eine Übertragung aus dem Ukrainischen in eine andere Sprache eine besondere Herausforderung. Die Übersetzer Sabine Stöhr und Juri Durkot wurden mit ihrer Übertragung ins Deutsche mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichnet. Dass zwei Personen an einer Übersetzung arbeiten, ist ungewöhnlich und zeigt, wie schwer und anspruchsvoll die Arbeit mit Zhadans „Internat“ ist. Und doch lassen sich viele Stellen in der deutschen Fassung des Romans finden, die den Leser stocken lassen. So zum Beispiel die Formulierungen mit dem Wort „fuck“. Das Wort „dawaj“ wird an den meisten Stellen (zumindest dort, wo es zur derben Sprache gehört) nicht übersetzt, da die Übersetzer davon ausgehen, dass es der deutsche Leser versteht. Das Wort „fuck“ ist aber nicht nur eine bloße Übersetzung, sondern steht für eine Vielzahl an Ausdrücken wie zum Beispiel „твою маму“, „блядь“ oder „сука“. Dabei geht, anders als im Ukrainischen, die Natürlichkeit, mit der die derbe Sprache in den normalen sprachlichen Gebrauch einfließt, durch die Benutzung von „fuck“ verloren. Die Konstruktionen mit „fuck“ wirken in der deutschen Übersetzung unnatürlich und steif. Bei einer Übersetzung, an der gleich zwei Autoren arbeiten, ist der Rückgriff auf das Wort „fuck“ nicht nachvollziehbar. An anderen Stellen, vor allem bei den Metaphern, arbeiten die Übersetzer sehr nah am Original. Dadurch behält der Text seine ungewöhnliche, poetische Ästhetik. Es geht ohnehin in „Internat“ um etwas ganz Anderes. Das Motiv der zivilen Bevölkerung und des einzelnen Menschen im Krieg ist über die ukrainischen Grenzen hinaus gültig. Zhadan möchte nicht mit seinem neuen Roman ukrainische Literatur über die Landesgrenzen hinaus schmackhaft machen. Es ist der Mensch, der im Zentrum steht.

Die Thematik in Zhadans „Internat“ ist also weder neu noch innovativ. Das Motiv der Auswirkungen des Krieges auf den einzelnen Menschen wurde schon häufig behandelt. Doch „Internat“ nimmt in einer poetischen und gleichzeitig derben Art unmittelbar Bezug auf das Geschehene. Der Roman ruft uns den Krieg, der sich noch immer in unserer Nachbarschaft abspielt, wieder ins Gedächtnis. Und er erinnert uns an eins: Es kann jeden von uns jederzeit treffen. Auch wir werden dann Stellung beziehen müssen.

Autorin: Lina Gavardt

 


1 https://www.tagesspiegel.de/kultur/ukrainischer-autor-serhij-zhadan-die-realitaet-des-krieges-ist-nicht-schwarz-weiss/21155902.html, letzter Zugriff 12.07.2018

2 https://www.tagesspiegel.de/kultur/ukrainischer-autor-serhij-zhadan-die-realitaet-des-krieges-ist-nicht-schwarz-weiss/21155902.html, letzter Zugriff 12.07.2018

Zusätzliche Quellen:

  • https://www.tagesspiegel.de/kultur/ukrainischer-autor-serhij-zhadan-die-realitaet-des-krieges-ist-nicht-schwarz-weiss/21155902.html, letzter Zugriff 12.07.2018
  • http://www.rulit.me/books/internat-read-498376-1.html, letzter Zugriff 12.07.2018