„Bei der Rolle der Minderheitensprachen herrscht eine verkehrte Welt zwischen Ost- und Westeuropa“
In der zweiten Sitzung unserer Ringvorlesung sprach Prof. Dr. Monika Wingender über die Anwendbarkeit der Europäischen Charta der Regional- und Minderheitensprachen (ECRM) auf die Länder im östlichen Europa. Nach einer ausführlichen Vorstellung durch Prof. Dr. Marion Krause berichtete Prof. Dr. Wingender uns zunächst von den Rahmenbedingungen der ECRM. Nach dieser Charta, die 1992 vom Europarat verabschiedet wurde, werden Minderheitensprachen als zahlenmäßig kleinere Sprachen definiert, die nicht die offiziellen Sprachen eines Landes sind. Durch den Schutz dieser Sprachen soll die kulturelle Vielfalt Europas gesichert werden. Doch bei der Anwendung dieser Charta gibt es im östlichen Europa massive Probleme. Die Gründe dafür sind eine sehr viel größere Sprachenvielfalt in Osteuropa und eine verkehrte Welt in Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Hinblick auf die Definition der Minderheitensprachen.
In der Sowjetunion wurde Russisch zwar nicht ausdrücklich als Staatssprache deklariert, da die Ideologie von der Gleichheit der Nationalitätensprachen getragen wurde, de facto war es aber die offizielle Sprache der UdSSR. Als nach dem Zerfall der Sowjetunion die Titularsprachen der ehemaligen Mitgliedsstaaten zu Staatssprachen wurden, konnten sie dieser Funktion oft nicht gerecht werden, da es zum Teil Defizite in der Standardisierung gab und viele Staatsangehörige die neuen Staatssprachen unzureichend beherrschten. Dadurch litt das Prestige der Titularsprachen und das Prestige des Russischen stieg weiter an. Durch die Anwendung der ECRM müsste nun beispielsweise im Baltikum das Russische als neue Minderheitensprache geschützt und gefördert werden. Die russische Sprache als Weltsprache, die heute immer noch lingua franca in Osteuropa ist, verfehlt diese Definition aber vollkommen. Daher haben die baltischen Staaten die Charta nicht unterzeichnet.
In der Ukraine führte die Ratifizierung der Charta zu einem großen Konflikt, da sie als Instrument für eine massive Förderung des Russischen missbraucht wurde. Im Jahr 2012 wurde mit Hilfe der Charta ein umstrittenes Sprachengesetz verabschiedet, das die russische Sprache in vielen Regionen zur offiziellen Regionalsprache ernannte. Aufgrund der schlechten Erfahrungen in der Ukraine wurde in Russland zunächst ein Pilotprojekt mit Simulationen in einigen Republiken auf den Weg gebracht. Das Ergebnis dieser Simulation war jedoch recht ernüchternd: Durch die ECRM würden die offiziellen zweiten Regionalsprachen geschützt, deren Schutz aber bereits durch die eigene Sprachenpolitik der Republiken Russlands gewährleistet sei – das Pilotprojekt hat also ergeben, dass die Charta ihr Ziel verfehlen würde und ihre Anwendung in der Russischen Förderation nicht Minderheitensprachen zu Gute kommen würde.
Frau Prof. Dr. Monika Wingender fasste für uns zum Ende ihres Vortrages zusammen, dass die ECRM vom Baltikum abgelehnt wurde, die Charta in der Ukraine instrumentalisiert wurde und in der Russischen Förderation als Pilotprojekt gescheitert ist. Die Charta, die im westlichen Europa ein sinnvolles Mittel zum Schutz der kulturellen Vielfalt darstellt, wurde im EU-Beitrittsprozess oft als Druckmittel verwendet und ist für Osteuropa nicht hilfreich und relevant. Unter Umständen kann sie sogar eine konfliktintensivierende Wirkung auf Sprachkonflikte und Spannungsfelder im östlichen Europa haben.
Autorin: Johanna Verhoeven
Weiterführende Literatur:
Frau Prof. Dr. Wingender hat zu dem Thema des Vortrags 2012 gemeinsam mit Franz Lebsanft das Buch „Die Sprachpolitik des Europarats: Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen aus linguistischer und juristischer Sicht“ (Berlin, 2012) herausgegeben.
Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen
Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen (ECRM) soll geschichtlich gewachsene Regional- oder Minderheitensprachen schützen und fördern. Dahinter steht das Bestreben, kulturelle Traditionen und das Kulturerbe Europas zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Bewohner Europas sollen die Möglichkeit haben, ihre Regional- oder Minderheitensprache sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich zu gebrauchen. Dafür erhält die Charta Maßnahmen in den Bereichen Bildungswesen, Justiz, Verwaltungsbehörden und öffentliche Dienstleistungsbetriebe, Medien, kulturelle Tätigkeiten und Einrichtungen, wirtschaftliches und soziales Leben und grenzüberschreitender Austausch. Jede Vertragspartei verpflichtet sich, mindestens 35 Paragraphen oder Absätze aus diesem Maßnahmenkatalog anzuwenden. Zur Kontrolle werden regelmäßig vorzulegende Berichte von einem Sachverständigenausschuss geprüft.
Quelle: http://www.coe.int/de/web/conventions/full-list/-/conventions/treaty/148 (30.10.2016)
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